Vereinte Nationen nach europäischem Vorbild

Juni 2021

Seit Jahrzehnten hat der Multilateralismus, der auf einer gemeinsamen übergreifenden Vision aufbaut, die längste Periode von Frieden und Stabilität in Europa verankert. Das allein sollte die Europäische Union dazu qualifizieren, als Modell für die Erneuerung der Vereinten Nationen zu dienen.

Von Sandra Breka und Brian Finlay

EU European Union UN United Nations
Foto: Reuters / Adobe Stock

Im September letzten Jahres beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen anlässlich der Feier ihres 75. Jahrestages eine wegweisende Erklärung. Sie bekräftigte die Verpflichtung, „Ressourcen zu mobilisieren“, „in einem bisher nicht dagewesenen Maß politischen Willen und Führungsstärke zu beweisen“ und so die „Zukunft, die wir wollen“ zu sichern. Die sogenannte UN75-Erklärung war ein inspirierender Beschluss. Aber wird dieser auch zu bedeutenden Veränderungen führen?

Die Vergangenheit zeigt: Er könnte es durchaus. Vergangene UN-Jahrestage brachten auch in weniger einschneidenden Zeiten wesentliche Strukturreformen mit sich. So legten die Staats- und Regierungschefs am 60. Jahrestag beispielsweise den Grundstein der Kommission für Friedenskonsolidierung, die Länder beim Übergang vom Krieg zu Frieden unterstützen soll, werteten die Menschenrechtskommission zu einem erstarkten Menschenrechtsrat auf und verabschiedeten das Prinzip der Schutzverantwortung („responsibility to protect“), um die von bewaffneten Konflikten betroffenen Zivilbevölkerungen besser zu schützen.

Dass sie auf den Willen der Zivilgesellschaft eingeht, erhöht die Erfolgsaussichten der UN75-Erklärung zusätzlich. Im Vorfeld der Generalversammlung im vergangenen Jahr führte die UN eine weltweite Befragung durch, um mehr über die Hoffnungen und Ängste der Menschen zu erfahren. Von den mehr als 1,3 Millionen Teilnehmern gaben 87 % an, dass globale Zusammenarbeit für die Bewältigung der heutigen Herausforderungen von entscheidender Bedeutung ist.

Die UN unterstützte außerdem die Umsetzung von mehr als 3.000 Gesprächen in 120 Ländern über „die Zukunft, die wir wollen, die Vereinten Nationen, die wir brauchen“. Die Ergebnisse dieser Gespräche, die in „Klassenzimmern,Vorstandsetagen, Parlamenten und Gemeinden“ stattfanden, halfen, die Erklärung zu prägen.

Gleichzeitig arbeiten nationale Regierungen an einer Wiederbelebung multilateraler Zusammenarbeit. So riefen im April 2019 der deutsche Außenminister Heiko Maas und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian die Allianz für Multilateralismus aus, um die internationale Zusammenarbeit in Zeiten von zunehmendem Nationalismus zu stärken. Inzwischen unterstützen mehr als 50 Länder diese Allianz.

Im vergangenen Februar erklärten die Staats- und Regierungschefs der G7, einschließlich US-Präsident Joe Biden, ihren Willen zur Zusammenarbeit, um 2021 zu einem „Wendepunkt für den Multilateralismus“ zu machen. Zu den Top-Prioritäten für internationale Kooperation zählen die Erholung nach der Pandemie und „building back better“.

Auch unterstützen Staaten die UN75-Erklärung selbst in besonderem Maße: Zwei Monate nach ihrer einstimmigen Verabschiedung veröffentlichten zehn Staats- und Regierungschefs auf Initiative Spaniens und Schwedens,eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie ihre Unterstützung der Erklärung sowie deren Anspruchsniveau bekräftigen. Darin forderten sie zudem Reformen der drei Hauptorgane der Vereinten Nationen, um eine „agilere, effektivere und stärker rechenschaftspflichtige Organisation zu schaffen“, die „bessere Ergebnisse hervorbringt.“

All dies sind gute Vorzeichen für die Zukunft des Multilateralismus. Doch Worte in die Tat umzusetzen ist selten einfach, insbesondere, wenn so viele Akteure mit gegensätzlichen Vorstellungen und Interessen beteiligt sind. Angesichts der in weiten Teilen der Welt starken nationalistischen und populistischen Kräfte ist die Herausforderung umso gewaltiger. Um sie zu meistern, lohnt sich ein Blick nach Europa.

Die Europäische Union hat sich als zuverlässige Verfechterin des Multilateralismus erwiesen. So veröffentlichten etwa die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, im Februar eine gemeinsame Mitteilung zur Stärkung des EU-Beitrags hin zu einem regelbasierten Multilateralismus .

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron sowie die Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission, Charles Michel und Ursula von der Leyen, forderten kürzlich gemeinsam mit UN-Generalsekretär António Guterres und dem senegalesischen Präsidenten Macky Sall eine inklusive Ausgestaltung des Multilateralismus.

Die Führung der Europäischen Union in diesem Bereich ist folgerichtig. Obgleich von mehreren Seiten häufig als träge, risikoscheu und unflexibel bemängelt, zeichnet sie sich dennoch durch die Gestaltung eines effektiven staatenübergreifenden Gefüges und das Bündeln von Ressourcen aus, um gemeinsame Herausforderungen zu meistern. Hinzu kommt, dass Europäer internationale Zusammenarbeit in besonders hohem Maß befürworten: Bei der UN-Umfrage sprachen sich mehr als 90 % der Europäer für eine länderübergreifende Zusammenarbeit aus, die sie als „wesentlich“ oder „sehr wichtig“ einstuften – und lagen damit mehrere Prozentpunkte über dem weltweiten Durchschnitt.

Inspiriert von den Erfahrungen Europas hinsichtlich aktivem Multilateralismus haben unsere Organisationen, die Robert Bosch Stiftung und das Stimson Center, gemeinsam mit anderen Partnern zuletzt führende politische Entscheidungsträger und Experten aus Europa und der ganzen Welt zusammengebracht, um zu debattieren, wie der Gehalt der UN75-Erklärung Wirklichkeit werden kann. Dabei wurden verschiedene Schlüsselthemen identifiziert.

Beispielsweise müssen Spitzenpolitiker weltweit den Ursachen von Konflikten begegnen, um dadurch den Handlungsdruck auf den UN-Sicherheitsrat und das globale humanitäre System zu reduzieren. Dies schließt zum Beispiel die Erfüllung sozialer Grundbedürfnisse, ein Ende politischer Unterrepräsentation und die Stärkung nationaler und regionaler Regierungsinstitutionen ein.

Darüber hinaus müssen wir die Wissenschaftsleugnung und Herabwürdigung von Fachwissen bekämpfen, die Covid-19-Impf- sowie Klimaschutzbemühungen unterwandern. Durch internationale und nationale Öffentlichkeitsarbeit soll Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse wiederhergestellt und gegen Desinformation vorgegangen werden.

Ein drittes Schlüsselthema ist die Neuausrichtung der globalen und regionalen Finanzinstitutionen, um bestehende Lücken in Bezug auf digitale Teilhabe, Bildung und Geschlechtergerechtigkeit weltweit zu schließen. Im digitalen Zeitalter können Investitionen in Technologien dazu beitragen, die Teilhabe junger Menschen (insbesondere von Mädchen und jungen Frauen) an Entscheidungen zu erhöhen, die ihr Leben und ihre Kenntnis über Menschenrechte beeinflussen. Ebenso wichtig sind Reformen der rechtlichen und normativen Rahmenbedingungen, um die Herausforderungen der heutigen online wie offline Welt abzubilden.

Multilaterale Lösungen sind oftmals mühsam zu formulieren, abzustimmen und umzusetzen. Das mag sie ineffizient und unwirtschaftlich erscheinen lassen – mancher Akteur nimmt deshalb an, im Alleingang besser voranzukommen. Dennoch hat Europa immer wieder bewiesen, dass die Lösungen, die aus multilateralen Prozessen heraus entstehen, meist integrativer, wirksamer und beständiger sind. Europa verdankt diesen Prozessen die am längsten anhaltende Zeit des Friedens und der Stabilität.

Das allein sollte die EU veranlassen, wertvolle Rückschlüsse für die Erneuerung der UN in laufende Debatten einzubringen. Eine inklusive, anpassungsfähige und gestärkte UN, die von den Erfahrungen der EU profitiert, kann ein starkes Fundament für eine regelbasierte internationale Ordnung bilden, die weltweit für Frieden und Stabilität sorgt und gleichzeitig die gemeinsame Überwindung von Herausforderungen ermöglicht. Eine solche Institution verdient unser unermüdliches Engagement und Mitwirken.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Project Syndicate veröffentlicht.

Sandra Breka Profil rund grau 30p
Foto: Gene Glover

 

Sandra Breka ist Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung.

Brian Finlay rund grau 30p

 

Brian Finlay ist Präsident und Geschäftsführer des Stimson Centers in Washington, D.C. und Brüssel.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Menschen wählen ihre Spiegelbilder

Interview mit der slowakischen Soziologin und ehemaligen Premierministerin Iveta Radičová über Populismus, zu hohe Erwartungen an die Demokratie und den langen Weg nach Westen.

Auf einer externen Seite weiterlesen

Eine neue Führungsrolle für die USA in turbulenten Zeiten

Die USA müssen verstehen, dass ihre eigenen Interessen sich mit denen der restlichen Welt decken, argumentiert Stephen Heintz. Was gut für die Welt ist, ist auch gut für die USA.

Weiterlesen

Der Klimawandel ist kein Problem, sondern ein Symptom

Internationalen Abkommen zum Umweltschutz zeigen nicht die erforderliche Wirkung. Dabei mangelt es nicht an Rechtsinstrumenten, das Problem eher liegt in der Umsetzung. Die Zivilgesellschaft kann dazu beitragen, dies zu ändern. Ein Interview mit María...

Weiterlesen