Ungarns riskantes Spiel in Russlands Krieg

März 2023

Obwohl Ungarn EU-Sanktionen drohen, ist das Land offen für russischen Einfluss. Warum Viktor Orbán glaubt, zwischen Ost und West lavieren zu können – zum Vorteil Ungarns.

Von Zsuzsanna Szelényi

Viktor Orbán Wladimir Putin
IMAGO / TAR-TASS Mikhail Metzel

„Seit einem Jahr gibt es Krieg und Verwüstung. Die europäische Wirtschaft leidet seit einem Jahr. Wir zahlen den Preis für diesen Krieg seit einem Jahr. Aber Brüssel hat keinen Friedensplan. Nicht Sanktionen, sondern Friedensgespräche werden diesem Krieg ein Ende setzen!“Dieses Zitat stammt aus einer der öffentlichen „Informationskampagnen“ der ungarischen Regierung, die am ersten Jahrestag des russischen Krieges gegen die Ukraine im ganzen Land zu hören waren: am 24. Februar 2023. Diese Kampagne ist ein Meisterwerk der illiberalen Propaganda des 21. Jahrhunderts. Sie klingt rational, ist aber eine Lüge. Nicht die Ungar:innen leiden furchtbar unter dem Krieg, sondern die Ukrainer:innen, die für ihre Unabhängigkeit gegen einen Aggressor kämpfen.

Die Regierung von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ist eine extreme Außenseiterin in der EU, wenn sie zum „Frieden“ aufruft. Orbán weiß genau, dass Europa so gut wie keinen Einfluss auf Russland hat. Sein Vorschlag suggeriert somit, dass die Europäische Union die Ukraine an den Verhandlungstisch drängen solle und dass Kiew dem nachkommen solle, unabhängig von Russlands Kompromissbereitschaft.

Was ist der Grund für Orbáns pro-russische Haltung? Orbáns Russlandfreundlichkeit ist relativ neu. „Das Öl mag aus dem Osten kommen, aber die Freiheit kommt immer aus dem Westen“, sagte Orbán im Jahr 2007. Als Russland 2008 Georgien angriff, verurteilte er Russland scharf und erinnerte die Ungarn an die moralische Verpflichtung, einem Land beizustehen, das um seine Souveränität kämpft. „Sprechen wir Klartext“, sagte er, „militärische Aggression ist militärische Aggression“.

Das neue Paradigma: Öffnung nach Osten

Nach der Wirtschaftskrise 2008 kam Orbán zu dem Schluss, dass die Dominanz des Westens im Niedergang begriffen sei. „Jetzt leuchtet der Stern des Ostens“, sagte er. Er begann, Russland, die Türkei und China zu hofieren, um umfassende Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen und Ungarn als führende Macht des neuen mitteleuropäischen Kerngebiets zu positionieren. Nur zwei Jahre, nachdem er Russland als Aggressor bezeichnet hatte, erklärte er, die Länder Mitteleuropas müssten lernen, sich auf Russland einzustellen.

Dieser politische Eiertanz zwischen Westeuropa und dem Osten bedeutete eine radikale Kehrtwende in der ungarischen Außenpolitik der letzten zwei Jahrzehnte, die einst die Souveränität und Weiterentwicklung des Landes im transatlantischen westlichen Bündnis garantiert sah. Die internationalen Turbulenzen nach der Krise boten Orbán reichlich Spielraum für Manöver. Statt auf multinationale Organisationen setzte er auf bilaterale Beziehungen, um die Chancen westlicher Allianzen und guter Beziehungen nach Osten gleichermaßen zu nutzen.

Die Hinwendung zu Russland war das Kernstück von Orbáns sogenannter Ostöffnung. In den Jahren 2010 bis 2014 verstaatlichte die Regierung Orbán mehrere Energieunternehmen, die sich in ausländischem Besitz befunden hatten, und gab sie nach der Re-privatisierung in die Hände regierungsnaher Wirtschaftsakteure. Auf diese Weise gewann Orbán die Kontrolle über den Öl- und Gashandel mit Russland. Außerdem traf er neue Geschäftsvereinbarungen, die seine eigenen politischen Interessen in Russland betreffen. Im Jahr 2014 schloss Orbán ein geheimes Abkommen mit Russland über den Bau eines Kernkraftwerks mit Hilfe eines russischen Kredits und schuf damit weitere finanzielle Abhängigkeiten. Ungarn intensivierte seine Zusammenarbeit mit Russland beim Bau einer neuen Gaspipeline zur Umgehung der Ukraine: TurkStream wurde 2021 eröffnet. Im selben Jahr schloss Ungarn einen neuen 15-jährigen Gasvertrag mit Russland ab. Die Regierung trat der umstrittenen, in Russland ansässigen Internationalen Investitionsbank bei, die ihren Sitz in Budapest hat. Die Bank erhielt diplomatischen Status, was zu Sorgen um die nationale Sicherheit führte. Im Jahr 2021 war Ungarn so stark von Russland abhängig wie seit den 1990er Jahren nicht mehr.

Seit 2010 traf Orbán elfmal mit Putin zusammen. Die herzlichen Beziehungen zwischen der ungarischen und der russischen Regierung wurden zu einem heiklen Thema, als Russland 2014 die Halbinsel Krim in der Ukraine annektierte und russische Truppen in die Ostukraine einmarschierten. Orbán versuchte, ein Gleichgewicht zu finden. Als Geste gegenüber den Russ:innen protestierte er lautstark gegen europäische Sanktionen gegen das Land, stimmte aber im Europäischen Rat wiederholt für diese Sanktionen. Ungarn stellte sich auch gegen die Ukraine und behauptete, das ukrainische Gesetz über Minderheitensprachen schränke die Rechte der 100.000 in der Ukraine lebenden ethnischen Ungar:innen ein.

Als Orbán im Lauf der Jahre immer öfter vom EU-Kurs abwich, sah er sich sowohl in Europa als auch in den USA Kritik ausgesetzt. Doch Orbán ist der Meinung, dass Konflikte ein natürlicher Bestandteil der internationalen Beziehungen sind.Wie in den anderen Ländern Mitteleuropas ist auch in Ungarn die Wirtschaft in den 2010er Jahren deutlich gewachsen. Staatliche Investitionen, die durch EU-Transferzahlungen finanziert wurden, und ausländische Direktinvestitionen, die in die Region flossen, führten zu einem Wachstum von vier bis fünf Prozent. So holte Mitteleuropa gegenüber dem EU-Durchschnitt auf. Orbáns Regierung zahlte hohe staatliche Subventionen an multinationale Unternehmen, damit sie sich im Land ansiedelten, und kaufte umfangreiche militärische Ausrüstung von westeuropäischen Partner:innen, um die Geschäftsbeziehungen zu „ölen“. Ungarn kam allen NATO-Verpflichtungen nach und die Regierung stimmte in wichtigen Fragen mit anderen EU- und NATO-Führern gemeinsam ab. Trotz Orbáns undurchsichtiger „Öffnung nach Osten“ und autokratischer Politik in Ungarn halfen ihm diese Schritte, für die westlichen Partner:innen akzeptabel zu bleiben.

Als Orbán aber schließlich 2021 damit drohte, sein Veto gegen den EU-Haushalt und den Covid-19-bezogenen Resilienz- und Wiederaufbaufonds einzulegen, brachen selbst seine engsten Verbündeten wie die deutschen Christdemokraten (CDU) den Kontakt zu ihm ab. Mit der Zeit schwand das Vertrauen und es wurde klar, dass Orbáns Ostöffnung nur auf Kosten des westlichen Bündnisses funktionieren konnte.

Ungarns Position im Krieg gegen die Ukraine

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat alles verändert. Die europäischen Länder haben erkannt, dass ein revisionistisches Russland ein permanentes Sicherheitsrisiko für den Kontinent darstellt. Im Februar 2022 hatte Orbán zwei Möglichkeiten: einen Mittelweg zwischen Ost und West zu gehen oder sich dem westlichen Block anzuschließen.

Im März 2022 stand im Wahlkampf in Ungarn viel auf dem Spiel, und der Krieg gab Orbáns Partei (Fidesz) einen mit großen Risiken behafteten Auftrieb. Die größte Sorge der Fidesz war, wie sie die pro-ukrainische Opposition aufhalten konnte. Um verunsicherte Wähler:innen zu gewinnen, entwickelte die Kommunikationsmaschinerie der Orbán-Partei schnell ein Narrativ: „Wir sollten uns aus diesem Krieg heraushalten“, und beschuldigte die Opposition, „Ungarn in den Krieg verwickeln zu wollen“. Diese Taktik erwies sich als äußerst erfolgreich, und die Fidesz gewann die Wahlen zum vierten Mal seit 2010.

Orbán glaubte, er sei stark genug, um seinen Eiertanz zwischen Moskau und dem westlichen Bündnis fortzusetzen, doch er hatte auch noch andere Sorgen. Erstens rissen die steigenden Energiepreise 2022 ein riesiges Loch in den ungarischen Staatshaushalt. Wegen der großen Abhängigkeit von russischen Energiequellen machte sich die ungarische Regierung auf eine verzweifelte Suche, um für den Winter Gas zu einem vernünftigen Preis zu kaufen. Orbán schickte im Juli 2022 seinen Außenminister Péter Szíjjártó zu einem Treffen mit dessen russischem Amtskollegen Lawrow, um Zugeständnisse auszuhandeln. Zweitens hatten Orbáns vom Staat geförderte politische und wirtschaftliche Kreise ein großes Interesse an immensen staatlichen Investitionen, die gemeinsam mit russischen Staatsunternehmen getätigt wurden. Eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland drohte das lukrative Gasgeschäft, den Bau von Bahninfrastruktur und den milliardenschweren Ausbau der Atomkraft zu blockieren. Drittens leitete die Europäische Union nach den ungarischen Wahlen ein Verfahren wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit Ungarns ein. Die Europäische Kommission verlangte eine umfassende Gesetzgebung zur Korruptionsbekämpfung und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz als Bedingung für die Auszahlung von 7,5 Milliarden Euro aus dem Post-Covid-Hilfsprogramm der EU. Für die Orbán-Regierung, die das Land in eine über 20-prozentige Inflation gesteuert hatte, waren diese Mittel wichtig für die Finanzierung des Staatshaushalts.

Orbán bereitete sich auf harte Verhandlungen mit der EU vor. Im Dezember 2022 war die ungarische Regierung bereit, mit einem Veto gegen das 18 Milliarden Euro schwere Hilfspaket für die Ukraine zu drohen, um den Europäischen Rat unter Druck zu setzen. Orbáns „bündnisfreie“ Position im Krieg wurde als Hebel eingesetzt, um an die EU-Finanzmittel zu kommen.

Orbáns opportunistische politische Kalküle

Orbán hat auch andere opportunistische politische Kalküle. Er ist sich bewusst, dass die Unterstützung der Ukraine einen sehr hohen Preis für die EU und ihre Bürger hat. Er weiß, dass es in Europa politische Parteien gibt, die zwar nicht an der Macht sind, aber seine Ansichten teilen und mit dem sogenannten „Friedensnarrativ“ Wahlen gewinnen könnten. Er rechnet damit, dass die unterschiedlichen strategischen und wirtschaftlichen Interessen der EU-Mitgliedstaaten oder die mögliche Wahl eines Präsidenten nach Art von Trump in den USA im Jahr 2024 den politischen Kurs ändern könnten und dass die Unterstützung für die Ukraine dann versiegen könnte. Orbán geht große Risiken ein und hofft, dass seine „vernünftige Friedenspolitik“ nach dem Ende des Krieges belohnt wird. Während der Migrationskrise im Jahr 2015 katapultierte ihn eine ähnlich radikale Strategie in die Position eines der einflussreichsten Politiker in Europa.

In einer kürzlich gehaltenen Rede brachte Orban seinen Willen zum Ausdruck, Ungarn zu einer europäischen Mittelmacht aufzubauen. Dies sei nur möglich, wenn Ungarn eine manövrierfähige Position zwischen den westlichen Bündnissen und den östlichen Partner:innen beibehalte. Er lehnt die Neuschaffung geopolitischer Blöcke ab, weil er befürchtet, dass dadurch Länder an der Peripherie ausgegrenzt werden.

Orbán ist nicht pro-Putin. Orbán ist pro-Orbán. Ungarn hat keinen Einfluss auf den Ausgang des Krieges in der Ukraine. Orbáns Worte werden an keinem zukünftigen Verhandlungstisch Gehör finden, aber er sieht in jeder Krise eine Gelegenheit, sie für seine Zwecke auszunutzen. Ironischerweise entwickelt sich Mitteleuropa mit dem russischen Angriffskrieg zu einem neuen Brennpunkt für Europa, wie Orbán lange gehofft hatte. Doch wird Orbáns Ungarn in diesem neuen Kern Europas noch Macht haben – oder hat er alle seine Karten ausgespielt und Ungarn damit höchstwahrscheinlich in einer Art Vakuum zwischen Ost und West isoliert?

Zsuzsanna Szelényi rund grau

Zsuzsanna Szelényi ist Expertin für Außenpolitik, Programmdirektorin am CEU Democracy Institute und Richard von Weizsäcker Fellow. In ihrem Buch "Tained Democracy. Viktor Orbán and the Subversion of Hungary" analysiert sie, wie Viktor Orbán seine Macht gefestigt hat und welche Lehren aus den ungarischen Erfahrungen gezogen werden können.

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