Policy_Paper_Ivan_Krastev

Policy Paper des Projekts "Hypocrisy, Anti-Hypocrisy and International Order" von Ivan Krastev

Die weit verbreitete, wachsende Kritik an der westlichen Doppelmoral ist ein charakteristisches Merkmal der Welt, in der wir heute leben. Es ist starker Ausdruck der Krise der liberalen Hegemonie. „Nehmt die Masken ab!“, so die Historikerin Sheila Fitzpatrick, sei für die meisten Gesellschaften ein wenig attraktives Paradigma, „da es davon ausgeht, dass die Zivilisation ein gewisses Maß an Maskierung erfordert. Einzig Revolutionen führen zur Aufhebung dieser Annahme.“ Wenn Fitzpatrick Recht hat, leben wir in revolutionären Zeiten.

Tiraden gegen die Doppelmoral des Westens und den Liberalismus sind in verschiedenen Teilen der Welt zu hören. Wenngleich sich Ziele und Zwecke dieser Tiraden deutlich unterscheiden, scheint die Besessenheit von Doppelmoral gemeinsames Merkmal der sich in ihnen ergehenden politischen Akteure zu sein, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Befürworter der radikalen Linken und der radikalen Rechten in der EU, Russlands Präsident Wladimir Putin, US-Präsident Donald Trump, radikale Islamisten im Nahen Osten und Antiimperialisten in Lateinamerika.

Was sind die Ursachen dieser Überempfindlichkeit gegenüber der Doppelmoral? Sind es die Machtasymmetrien, die das Bewusstsein weniger mächtiger Staaten und Gesellschaften gegenüber Regelbrüchen großer Mächte schärfen? Ist es die Tendenz der USA und der EU, sich seit dem Ende des Kalten Krieges mehr als jede andere Weltmacht regelmäßig auf universelle Prinzipien zu berufen, um ihren außenpolitischen Kurs zu rechtfertigen? Ist es die Erkenntnis, dass der Universalismus des Westens letztlich auch als Waffe gegen den Westen eingesetzt werden kann?

Das könnte Sie auch interessieren

Die Populisten haben die Pandemie benutzt

Der Umgang mit Corona in Teilen Osteuropas ist weitaus prekärer als im Westen. Auch politisch. Der polnische Soziologe Sławomir Sierakowski im Gespräch mit Zeit Online.

Auf einer externen Seite weiterlesen

Europa spielt das Faschismus-Spiel

Obwohl die Rechtsextremen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament keine vollständige Machtübernahme erreicht haben, herrscht in EU-Kreisen eine gefährliche Selbstzufriedenheit. Ece Temelkuran vergleicht die Situation mit einem trügerischen...

Weiterlesen

Taiwan ist nicht die Ukraine, aber ein möglicher Krisenherd

Seitdem Mitglieder des US-Repräsentantenhauses im August Taiwan besucht haben, haben die Spannungen zwischen Washington und Peking eine neue Intensität erreicht. Das hat viele dazu verleitet, einen Vergleich zwischen Taiwan und der Ukraine zu ziehen. Evan...

Weiterlesen