Willkommen in Putins Welt

März 2022

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat den dreißigjährige Friedensperiode in Europa nach dem Kalten Krieg ein jähes Ende gesetzt. Dieser Krieg könnte sogar eingefrorene Konflikte in der europäischen Nachbarschaft anheizen. Das europäische Projekt muss jetzt radikal neu gedacht werden.

Von Ivan Krastev

Ivan Krastev Vladimir Putin Russia
IMAGO/ SNA/ Alexander Vilf

Journalisten, die in den 1920er und 1930er Jahren über internationale Beziehungen schrieben, bezeichneten diese Ära als „Nachkriegszeit“. Sie betrachteten die Ereignisse durch das Prisma des Ersten Weltkriegs, der nur wenige Jahre zuvor Europa verwüstet hatte. Historiker, die heute über dieselbe Epoche schreiben, bezeichnen diese Jahre als „Zwischenkriegszeit“, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie analysieren die Geschehnisse dieser Jahre als Teil der Vorbereitung des noch zerstörerischen Zweiten Weltkriegs. Hätten die Journalisten, die im Europa der 1930er Jahre lebten, doch nur schon diese Einsicht gehabt.

Wir alle sollten diese zurückblickende Einsicht heute haben. Die militärische Aggression Russlands in der Ukraine ist einer dieser Momente, die uns zwingen, unsere eigene Epoche neu zu interpretieren: Die Ära, die wir den 30-jährigen Frieden nannten, der auf den Kalten Krieg folgte (wobei wir bewusst oder unbewusst dazu neigten, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu vergessen), ist nun vorbei. Künftige Historiker werden diese letzten Jahrzehnte im Großen und Ganzen ähnlich wie die Zwischenkriegszeit als eine verpasste Chance betrachten.

Je eher wir uns das eingestehen, desto besser können wir uns auf das vorbereiten, was als nächstes kommt. Leider herrscht in den westlichen Hauptstädten eine Art eigensüchtiger Leugnungswahn, der uns daran hindert, das Offensichtliche zu erkennen: Leidenschaftliche Plädoyers für die Verteidigung der europäischen Ordnung nach dem Kalten Krieg haben keine Bedeutung, weil diese Ära vorbei ist.

Nach der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 sprach Angela Merkel, die damalige deutsche Bundeskanzlerin, mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und berichtete Präsident Barack Obama, dass Putin ihrer Meinung nach den Bezug zur Realität verloren habe. Er lebe, so Merkel, in einer „anderen Welt“. Heute leben wir alle in dieser Welt. In dieser Welt, um Thukydides zu zitieren, „tun die Starken, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen“

Wie ist es so weit gekommen? Erstens müssen wir verstehen, dass dies nicht der Krieg Russlands ist. Es ist der Krieg Putins. Er gehört zu einer bestimmten Generation russischer Offiziere des Sicherheitsapparats, die es nie geschafft hat, sich mit Moskaus Niederlage im Kalten Krieg abzufinden. Vor ihren Augen verschwand die Sowjetunion von der Landkarte, ohne militärische Verluste oder eine ausländische Invasion. Für diese Offiziersgeneration ist der aktuelle Angriff auf die Ukraine ein logischer und notwendiger Wendepunkt. Das Ergebnis der Auseinandersetzung der beiden Großmächte im Kalten Krieg kann revidiert werden. Diese Leute sind nicht daran interessiert, Zukunft zu schreiben, sie wollen vielmehr die Vergangenheit umschreiben.

Putins Motiv: Revisionismus oder Revanchismus?

Während ich in ohnmächtiger Wut den russischen Raketenangriff auf Kiew sah, wurde mir plötzlich klar, dass viele Russen das genauso empfunden haben müssen, als die NATO vor zwei Jahrzehnten Belgrad bombardierte. Bei Putins Invasion geht es vielleicht eher um Rache als um eine große Strategie. Es gibt einen Unterschied zwischen Revisionismus und Revanchismus. Revisionisten wollen eine internationale Ordnung aufbauen, die ihnen gefällt. Revanchisten werden von einem Rachemotiv angetrieben. Revanchisten träumen nicht davon, die Welt zu verändern, sondern davon, mit den Siegern des letzten Krieges den Platz zu tauschen.

Wenn Putin heute Erfolg hat, kann der Westen nur sich selbst die Schuld geben. Während sich die westliche Öffentlichkeit von der Vorstellung den Kopf verdrehen ließ, Russland befinde sich in einem steilen Niedergang – sei „eine Tankstelle mit Atomwaffen“, wie einige es gerne nannten –, begann der russische Präsident, seine Strategie umzusetzen. Jahrelang hat Putin seinen Einflussbereich in der ehemaligen Sowjetunion gefestigt, angefangen mit dem Krieg gegen Georgien im Jahr 2008 und dann der Annexion der Krim im Jahr 2014. In jüngster Zeit hat er seinen Druck auf Weißrussland und Zentralasien erhöht. Nun hat er den nächsten, weitgehenden Schritt unternommen.

Präsident Biden sagte am 24. Februar, dass er als Reaktion auf die Invasion in der Ukraine beabsichtige, Putin „zu einem Außenseiter auf der internationalen Bühne“ zu machen. Das wäre eine angemessene Strafe für diesen Bruch des Völkerrechts, aber vielleicht kommt es nicht so weit. Es besteht die reale Gefahr, dass stattdessen sich der Westen stärker isoliert.

Die Allianz Moskau-Peking ist Realität

In den vergangenen zwei Monaten hat sich die Allianz zwischen Moskau und Peking dank des gemeinsamen Ziels, der amerikanischen Vorherrschaft etwas entgegenzusetzen, von einem Plan zu etwas Handfestem entwickelt. Die chinesischen Eliten sind zwar nicht begeistert von Russlands rücksichtslosem Einmarsch in die Ukraine (für die Chinesen ist die Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität ein ehernes Prinzip), doch es besteht kein Zweifel daran, dass sie auf Moskaus Seite bleiben werden. Ein Indiz dafür ist, dass Peking sich weigert, Putins Krieg offiziell als Invasion zu bezeichnen. Präsident Xi Jinping könnte der größte Nutznießer der aktuellen Krise sein: Amerika zeigt nicht nur Schwäche, sondern ist durch den Angriff auf die Ukraine auch stark in Europa eingebunden und kann sich nicht auf Asien konzentrieren.

Viele Länder betrachten den Konflikt zwischen Russland und dem Westen als einen Konflikt zwischen alten Großmächten, der sie kaum betrifft. Von größerer und unmittelbarerer Bedeutung ist die Art und Weise, wie die vom Westen verhängten Sanktionen die Energie- und Lebensmittelpreise in die Höhe treiben werden. Der Westen kann die Skeptiker gegenüber den Bemühungen, Putin zu bekämpfen, nur dann überzeugen, wenn es ihm gelingt, den Menschen außerhalb Europas zu zeigen, dass in Kiew nicht das Schicksal eines prowestlichen Regimes auf dem Spiel steht, sondern die Souveränität eines neu entstandenen postimperialen Staates. Einige haben diese Idee bereits verstanden: Der kenianische Botschafter bei den Vereinten Nationen brachte die Geschehnisse in der Ukraine auf den Punkt, als er sagte: „Die Situation ist eine Wiederholung unserer Geschichte. Kenia und fast alle afrikanischen Länder wurden durch das Ende des Imperialismus geboren.“

Was bedeutet das Ende des Friedens für Europa? Die Folgen werden schrecklich sein. Der Krieg in der Ukraine hat das beängstigende Potenzial, eingefrorene Konflikte in den Peripherie des Kontinents anzuheizen, auch anderswo im postsowjetischen Raum sowie auf dem Westbalkan. Die Regierenden der Republika Srpska könnten einen Sieg Putins in der Ukraine als Signal für die Zerschlagung Bosniens verstehen. Auch die russlandfreundlichen Oberhäupter innerhalb der Europäischen Union werden sich durch den Sieg Putins ermutigt fühlen. Der Einmarsch in die Ukraine hat Europa geeint, aber er wird auch seinem Selbstvertrauen schaden.

Radikales Umdenken des europäischen Projekts ist notwendig

Vor allem aber werden die Ereignisse der vergangenen Woche ein radikales Überdenken des europäischen Projekts erforderlich machen. In den letzten 30 Jahren haben sich die Europäer eingeredet, dass militärische Stärke den Preis nicht wert sei und dass die militärische Überlegenheit der USA ausreiche, um andere Länder von einem Krieg abzuhalten. Die Ausgaben für die Verteidigung gingen zurück. Was zählte, so die gängige Meinung, waren Wirtschaftskraft und Soft Power.

Jetzt wissen wir, dass Sanktionen Panzer nicht aufhalten können. Die in Europa sorgsam gepflegte Überzeugung, dass wirtschaftliche Verflechtungen die beste Garantie für Frieden sind, hat sich als falsch erwiesen. Die Europäer haben einen Fehler gemacht, als sie ihre Erfahrungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf Länder wie Russland übertrugen. Kapitalismus reicht nicht aus, um autoritäre Regime einzuhegen. Der Handel mit Diktatoren macht das eigene Land nicht sicherer, und wenn man das Geld korrupter Führer in seinen Banken aufbewahrt, zivilisiert man sie nicht, sondern korrumpiert sich selbst. Europas Abhängigkeit von Erdgas und Erdöl hat den Kontinent nur noch unsicherer und verwundbarer gemacht.

Die destabilisierendste Auswirkung der russischen Invasion könnte sein, dass viele in der Welt anfangen, dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zuzustimmen. Auf dem Münchner Sicherheitsforum im Februar erklärte er, dass Kiew einen Fehler gemacht habe, als es die von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen aufgab. Die mangelnde Bereitschaft der Vereinigten Staaten, ein befreundetes Land wie die Ukraine zu verteidigen, könnte zumindest einige amerikanische Verbündete zu der Überzeugung bringen, dass Atomwaffen die einzige Möglichkeit sind, um Souveränität zu gewährleisten. Es ist vorstellbar, dass auch Chinas Nachbarn so denken. Die Tatsache, dass eine Mehrheit der Südkoreaner nun die Anschaffung von Atomwaffen für ihr Land befürwortet, deutet darauf hin, dass Putins Vorgehen in der Ukraine das weltweit etablierte System der Nichtverbreitung von Atomwaffen gefährdet.

1993 prophezeite der große deutsche Dichter und Essayist Hans Magnus Enzensberger, dass auf den Kalten Krieg ein Zeitalter des Chaos, der Gewalt und der Konflikte folgen würde. Angesichts dessen, was er in Jugoslawien und bei den Unruhen in den Vereinigten Staaten beobachtete, sah er eine Welt, die von der „Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden“, geprägt war. In dieser Welt "gibt es keine Notwendigkeit mehr, sein Handeln zu legitimieren. Die Gewalt hat sich von der Ideologie befreit".

Enzensberger hatte mit seiner Prognose Recht. Er war nur zu früh dran.


Dieser Artikel erschien zuerst in The New York Times.

Ivan Krastev rund grau

 

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia, Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.

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