Gender, Wohlstand und Wohlbefinden: ein vielversprechender Pfad zu Gerechtigkeit
Die beiden großen Herausforderungen unserer Zeit – zunehmende Ungleichheit und beschleunigter Klimawandel - haben eine genderspezifische Dimension.
von Prof. Dr. Naila Kabeer mit Swetha Covaiselvan
Am 24. Januar 2025 organisierten Naila Kabeer, Professorin an der London School of Economics und Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy, und Dr. Grace Mbungu, Senior Fellow am Africa Policy Research Institute (APRI), in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Academy einen Workshop für 20 Akademiker:innen, politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger und Menschen, die sich für die Zivilgesellschaft engagieren, um die genderspezifischen Dimensionen der beiden großen Herausforderungen unserer Zeit – zunehmende Ungleichheit und beschleunigter Klimawandel – aus einer integrierenden Perspektive zu untersuchen.
In ihrer Eröffnungsrede erläuterte Naila Kabeer die genderspezifischen Herausforderungen angesichts deregulierter Märkte und wachsender Ungleichheit: Eine kleine Minderheit von Menschen besitzt einen unverhältnismäßig großen Anteil des weltweiten Reichtums und beansprucht einen unverhältnismäßig großen Anteil der Gewinne für sich.[1] Frauen als Gruppe besitzen weniger von diesem Reichtum als Männer, auf sie entfällt nur ein Drittel der weltweiten Einkommen, und sie und sind generell ärmer. Diese wirtschaftlichen Ungleichheiten werden durch die Überschneidung von Genderaspekten mit anderen Formen identitätsbasierter Ungleichheiten wie Hautfarbe, soziale Klasse oder Kaste, ethnische Herkunft und Sexualität noch verschärft.
Dr. Grace Mbungu[2] erläuterte die gender- und geschlechtsspezifischen Herausforderungen im Kontext des Klimawandels. Sie wies darauf hin, dass Ungleichheiten verschiedener Art die Auswirkungen des sich beschleunigenden Klimawandels verstärken. Männer und Frauen erleben den Klimawandel je nach geografischem, wirtschaftlichem und sozialem Kontext unterschiedlich. Im Großen und Ganzen sind es die wohlhabenden Menschen im globalen Norden, die für den Anstieg der Kohlenstoffemissionen verantwortlich sind, während arme Frauen, die in ländlichen Gebieten des globalen Südens leben, die Hauptlast des Klimawandels tragen. Um einen gender- und geschlechtergerechten Übergang zu erreichen, ist es entscheidend zu verstehen, wie sich der Klimawandel auf diese Gruppen auswirkt.
Ziel des Workshops war es, die gemeinsamen Ursachen zu erforschen, die diesen verschiedenen Formen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit zugrunde liegen und die in einem ungerechten Wirtschaftssystem wurzeln. Der Workshop untersuchte auch das Spektrum der Lösungen, die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Forschenden, politischen Entscheidungsträger:innen und Organisationen der Zivilgesellschaft diskutiert werden. Ein Anliegen, das die Organisatorinnen und Organisatoren des Workshops bewegte, war die Notwendigkeit, das Konzept von Wohlstand als Produktion gesellschaftlich nützlicher und notwendiger Güter und Dienstleistungen von der gegenwärtig herrschenden Auffassung von Wohlstand zu trennen, die Wohlstand mit marktorientiertem Wachstum gleichsetzt. Mit anderen Worten: Die Produktion muss sich an einem Konzept des qualitativen gesellschaftlichen Wohlergehens orientieren und nicht an dem Streben nach Profit. Diese Unterscheidung ist wichtig, um sicherzustellen, dass arme Länder und arme Menschen beim Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft nicht benachteiligt werden. Der vorliegende Bericht fasst die im Rahmen des Workshops geführte Diskussion zusammen.
Der weitere Kontext
Im Jahr 2025, dem Jahr des 30. Jahrestags der Vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen und der damals verabschiedeten Erklärung und Aktionsplattform von Peking, müssen sich die Befürworter:innen der Gleichstellung der Geschlechter einer ernüchternden Realität stellen: Trotz jahrzehntelanger Bemühungen sind die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in den Gesellschaften nach wie vor tief verwurzelt. Die Erklärung von Peking, die 1995 auf der Vierten Weltfrauenkonferenz verabschiedet wurde, ist nach wie vor ein wegweisendes internationales Bekenntnis zur Förderung der Rechte der Frauen und der Gleichstellung der Geschlechter in Schlüsselbereichen wie Bildung, Gesundheitsversorgung, wirtschaftliches Empowerment und politische Teilhabe. Parallel dazu wurden mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) auch globale Ziele für die Gleichstellung der Geschlechter und den Klimaschutz festgelegt. Doch angesichts der Tatsache, dass das Jahr 2030 nur noch fünf Jahre entfernt ist, bremsen systemische, strukturelle und finanzielle Hindernisse nach wie vor bedeutende Fortschritte und die vollständige Verwirklichung dieser Vision aus.
In den vergangenen drei Jahrzehnten haben Regierungen, Organisationen der Zivilgesellschaft und internationale Institutionen eine Reihe von Maßnahmen und Initiativen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter umgesetzt. Zu den wichtigen Meilensteinen gehören ein besserer Zugang zu Bildung für Frauen und Mädchen, Rechtsreformen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und eine stärkere politische Repräsentation von Frauen in Parlamenten und politischen Ämtern. So wurden zum Beispiel seit 2015 rund 50 Millionen mehr Mädchen eingeschult, 155 Länder haben Gesetze gegen häusliche Gewalt erlassen und 140 Länder haben Schutzmaßnahmen gegen Belästigung am Arbeitsplatz eingeführt. Die Fortschritte geschehen jedoch langsam und ungleichmäßig. Eine von zehn Frauen lebt in extremer Armut, und 73,5 Prozent der erwerbstätigen Frauen weltweit sind nicht sozial abgesichert. Der begrenzte Zugang zur Gesundheitsversorgung und die anhaltende Unterrepräsentation in Entscheidungspositionen sind nach wie vor große Hindernisse auf dem Weg zur vollständigen Gleichstellung. Die COVID-19-Pandemie hat diese Ungleichheiten noch verschärft und sich unverhältnismäßig stark auf die Beschäftigung und Sicherheit von Frauen ausgewirkt. Zwischen 2019 und 2020 ist die Beschäftigung von Frauen um 4,2 Prozent zurückgegangen, wobei weltweit 54 Millionen Arbeitsplätze verloren gingen. Gleichzeitig nahm die unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund von Schulschließungen und erhöhtem gesundheitlichem Pflegebedarf zu, was die Teilhabe und das Wohlbefinden von Frauen weiter einschränkte.
Hinzu kommt, dass die Klimakrise die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verschärft hat, wobei Frauen, vor allem im globalen Süden, die Hauptlast zu tragen haben. So sind beispielsweise 80 Prozent der Menschen, die durch klimabedingte Katastrophen vertrieben werden, Frauen, weil sie mit größerer Wahrscheinlichkeit auf klimasensible Lebensgrundlagen wie Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft angewiesen sind. Darüber hinaus sind Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark von Ressourcenknappheit betroffen, da sie häufig für das Sammeln von Wasser und Brennstoff zuständig sind. In dürregeplagten Regionen müssen sie längere Strecken zurücklegen, um diese lebenswichtigen Ressourcen zu beschaffen, was die Gefahr von Gesundheitsrisiken und Gewalterfahrungen erhöht. Auch geschlechtsspezifische Gewalt nimmt unter dem Einfluss des Klimas zu. So wird berichtet, dass Kinderheiraten in den vom Klima betroffenen Gebieten zunehmen, weil Familien, die mit einer unsicheren Ernährungslage zu kämpfen haben, ihre Töchter im Tausch gegen Ressourcen verheiraten.
Trotz des eindeutigen Zusammenhangs zwischen gender- und geschlechtsspezifischer Ungleichheit und Vulnerabilität durch Klimaveränderungen werden Maßnahmen gegen den Klimawandel und für Geschlechtergerechtigkeit in den politischen Agenden nach wie vor weitgehend getrennt behandelt. Diese Diskrepanz besteht fort, obwohl es immer mehr Belege dafür gibt, dass eine Führungsrolle und die Beteiligung von Frauen an Entwicklungs- und Klimalösungen zu effektiveren und nachhaltigeren Ergebnissen führen. Die Teilnehmer:innen des Workshops betonten die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes, um geschlechtsspezifische, wirtschaftliche und vom Klima verursachte Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Sie betonten, dass diese Themen miteinander verknüpft sind und als tragende Säulen für gerechte Veränderungen gestärkt werden müssen.
Unter der Oberfläche: die verborgenen Strukturen der Ungleichheit der Geschlechter
Wirtschaftliche, klimatische sowie gender- und geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten sind eng miteinander verwoben und wurzeln in den zugrunde liegenden strukturellen Ungleichheiten, die bestimmen, wer die Macht hat, wer die Ressourcen kontrolliert und wessen Arbeit geschätzt wird. Wie Professorin Kabeer in ihrer Einführung darlegte, wurde der Ausschluss von Frauen von Entscheidungsprozessen und Arbeitsmärkten lange Zeit mit ihrer reproduktiven Rolle begründet, was die Annahme verstärkte, dass sie „von Natur aus“ die besseren Pflegerinnen, aber weniger geeignet für Führungsaufgaben seien. Diese geschlechtsspezifischen Annahmen prägen die Arbeitsmärkte auf der ganzen Welt, beeinflussen die Klimapolitik und schließen so Frauen von wichtigen Diskussionen über Klimaschutz, Anpassungen und den Übergang zur Green Economy aus.
Dr. Mbungu griff dieses Thema auf und betonte, dass der Klimawandel bestehende Ungleichheiten verstärkt und neue Formen der Ungerechtigkeit hervorbringt. Von Frauen wird erwartet, dass sie während einer Krise wie einer Klimakatastrophe oder einem wirtschaftlichen Zusammenbruch „einen größeren Teil der Belastung tragen“, indem sie Betreuungsarbeit übernehmen, Gemeinschaften wieder aufbauen und für Stabilität sorgen. Wenn sie jedoch Unterstützung benötigen, werden sie oft von den Wiederaufbaumaßnahmen nach der Katastrophe ausgeschlossen und ihnen werden Ressourcen, Ausbildungsmöglichkeiten und wirtschaftliche Chancen vorenthalten. Diese Ungleichheiten sind im globalen Süden noch ausgeprägter, wo systembedingte Hindernisse die finanzielle Sicherheit von Frauen bereits generell einschränken. Nach den Überschwemmungen 2010 in Pakistan beispielsweise hatten viele Frauen aufgrund finanzieller Engpässe, sozialer Normen, die ihre Bewegungsfreiheit einschränken, und des Fehlens nationaler gültiger Personalausweise, die eine Voraussetzung für den Erhalt staatlicher Hilfeleistungen sind, nur eingeschränkten Zugang zu humanitärer Hilfe.
Die Workshop-Teilnehmer:innen waren sich einig, dass technische Klimalösungen allein diese Ungerechtigkeiten nicht beseitigen würden. Eine:r von ihnen führte ein Beispiel an, um zu zeigen, dass die Ausweitung des Zugangs zu erneuerbaren Energien nicht unbedingt zur Gleichstellung der Geschlechter führt: Als indigene Gemeinden in Mexiko Windparks errichteten, kontrollierten Männer die wirtschaftlichen Profite, während Frauen schikaniert und von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen wurden. Diese Ergebnisse sind kein Zufall, sondern haben ihren Ursprung in einer langen Geschichte kolonialer Unterdrückung, kapitalistischer Ausbeutung und patriarchalischer Ungleichheiten.
Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Diskussion war der systemische Charakter von Geschlechternormen: Sie beeinflussen nicht nur persönliche Entscheidungen, sondern prägen auch die Politik, die Wirtschaftsstrukturen und den Zugang zu Klimaressourcen. Die Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern erfordert daher mehr als nur eine symbolische Adressierung: Sie erfordert eine radikale Umstrukturierung der wirtschaftlichen und finanziellen Prioritäten, der politischen Vertretung und der Strategien für Klimagerechtigkeit. Frauen müssen in den Mittelpunkt der Gespräche über wirtschaftliche und klimapolitische Lösungen gestellt werden. Eine Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit kann nicht auf denselben Grundlagen aufgebaut werden, die die Ausgrenzung von Frauen überhaupt erst verursacht hat.
Von der Ungleichheit zur Chance: Warum die Gleichstellung der Geschlechter Klimaresilienz und Wohlstand fördern kann
Der Kampf für Klimaresilienz und Wohlstandsmehrung ist ohne die Gleichstellung der Geschlechter unvollständig. Frauen sind nicht nur Opfer des Klimawandels, sie sind auch Innovatorinnen, Unternehmerinnen und Führungspersönlichkeiten, die in der Lage sind, transformative Lösungen voranzutreiben.[3] Dennoch bleiben sie von der Gestaltung der Politiken und Wirtschaftssektoren ausgeschlossen, die ihre gemeinsame Zukunft bestimmen. Studien zeigen, dass Frauen, wenn sie die Kontrolle über finanzielle Ressourcen haben, in Familien und Communities investieren und so die langfristige Stabilität und Nachhaltigkeit stärken. In Indien zum Beispiel haben von Frauen geleitete Selbsthilfegruppen nachhaltige Unternehmen gegründet, die Tausenden von Frauen Beschäftigung und finanzielle Unabhängigkeit bieten und die ländliche Wirtschaft verändern. Das Gleiche gilt für den Klimaschutz. Untersuchungen zeigen, dass Länder mit einem höheren Frauenanteil im Parlament eher bereit sind, internationale Umweltverträge zu ratifizieren und eine strengere Klimapolitik zu verfolgen. Auch nach einer Reihe von Erdbeben in Mexiko im Jahr 2017 spielten Frauengruppen eine Schlüsselrolle bei der Rettung und dem Wiederaufbau von Gemeinden. Ihre Beiträge finden jedoch oft keine Anerkennung, obwohl nachgewiesen ist, dass eine geschlechtergerechte Führung zu besseren und nachhaltigeren Ergebnissen führt.
Wie Dr. Mbungu betonte, kann die Gleichstellung der Geschlechter eine wichtige Triebkraft für die Schaffung von gesellschaftlichem Wohlstand sein, der für die Sicherung des Lebensunterhalts und die Widerstandsfähigkeit gegen den Klimawandel unerlässlich ist. Um dies zu erreichen, bedarf es jedoch mehr als nur einer stärkeren Beteiligung von Frauen an der Marktwirtschaft. Frauen verbringen derzeit mehr als dreimal so viel Zeit mit unbezahlter Hausarbeit wie Männer und verpassen dadurch wertvolle Chancen im öffentlichen, gesellschaftlich anerkannten Bereich. Untersuchungen zeigen, dass durch die Beseitigung der geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Bildung und Qualifikation die Weltwirtschaft um zehn Billionen US-Dollar wachsen könnte und gleichzeitig durch Investitionen in die Pflegewirtschaft fast 300 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern verschärft die wirtschaftliche Ungleichheit. Allein durch die Überbrückung dieser Kluft könnten über 500 Milliarden US-Dollar eingespart werden. Dennoch sind Frauen immer noch vor allem in schlecht bezahlten, informellen und prekären Arbeitsverhältnissen tätig und verdienen weltweit 24 Prozent weniger als Männer. Beim derzeitigen Tempo des Fortschritts wird es 170 Jahre dauern, bis das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern beseitigt ist.
Diese weitreichenden Ungleichheiten müssen beseitigt werden, wenn die Volkswirtschaften ihr volles Potenzial zur Schaffung von Wohlstand und zur Förderung des Wohlergehens ausschöpfen sollen. Zu lange hat man sich bei den Überlegungen zur „Ökologisierung“ der Wirtschaft auf Infrastruktur, Technologie und Finanzen konzentriert und dabei die grundlegende Frage vernachlässigt, wer davon profitiert. Ohne gezielte Anstrengungen, die geschlechtsspezifischen Barrieren zu überwinden, laufen Veränderungen für mehr Gerechtigkeit Gefahr, die gleichen Ungleichheiten fortzuschreiben, die lange Zeit die Marktwirtschaft bestimmt haben. Frauen, insbesondere in den Communities direkt an der Basis, müssen mit den Fähigkeiten, Ressourcen und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden, um die Agenda für einen gerechten Veränderungsprozess anzuführen. Um diese Vorteile voll ausschöpfen zu können, waren sich die Teilnehmer:innen jedoch einig, dass wir über die Inklusion hinausblicken und die Strukturen überdenken müssen, die die Wirtschafts- und Klimapolitik bestimmen. Die Diskussion muss sich von isolierten Interventionen hin zu systemischen Veränderungen verlagern.
Neuausrichtung der Debatte: die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes
Systemische Veränderungen müssen von einer ganzheitlichen Analyse des Problems geleitet werden. In vielen Kreisen besteht die Tendenz, die Klimakrise losgelöst von sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit zu diskutieren und die geschlechtsspezifische Ungerechtigkeit als nachträgliche Überlegung anzufügen. Diese Ungerechtigkeiten sind jedoch eng miteinander verknüpft und müssen in einem gemeinsamen Bezugsrahmen interpretiert werden. Wird dieser Zusammenhang nicht hergestellt, werden bereits bestehende Ungleichheiten verstärkt. Wie ein:e Teilnehmer:in feststellte, wurden während der Überschwemmungen in Deutschland bei den Notfallplänen ärmere, behinderte und ältere Bevölkerungsgruppen nicht berücksichtigt. Mit anderen Worten: Selbst in gut ausgestatteten Volkswirtschaften bleiben schwache Bevölkerungsgruppen oft auf der Strecke. In Regionen mit weniger Ressourcen und einer größeren Anzahl gefährdeter Menschen sind die Folgen oft noch gravierender.
Frauenrechtsbewegungen haben sich in der Vergangenheit zwar auf das Problem Geschlechterdiskriminierung konzentriert, doch sie erkennen auch an, dass nicht alle Frauen in gleicher Weise diskriminiert werden. Für die Verwirklichung der Gender- und Geschlechtergerechtigkeit beim Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist eine intersektionale Sichtweise von entscheidender Bedeutung. Denn sie erkennt an, dass Frauen vielfältigen, sich überschneidenden Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind, die ihre Chancen, ihren Zugang zu Ressourcen und ihre Entscheidungsautonomie beeinträchtigen. Faktoren wie Hautfarbe, Klasse, ethnische Zugehörigkeit, Behinderung, Sexualität, Alter und Migrantenstatus verstärken die Hindernisse, mit denen die meisten Frauen konfrontiert sind, und erfordern differenziertere und integrative Lösungen. Wie Professorin Kabeer in ihrer Einführung feststellte, gibt es aufgrund des Geschlechts selbst in den privilegiertesten Schichten unterschiedliche Chancen: Auf der Liste der 20 reichsten Menschen der Welt im Jahr 2025 steht die reichste Frau auf Platz 17, während die einzige weitere Frau Platz 20 belegt. Zugleich hob Kabeer hervor, dass Frauen in der Schnittmenge von Geschlecht, Klasse und anderen Ungleichheiten einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Bevölkerung am anderen Ende der Wohlstandsverteilung ausmachen: Ihre Lebensgrundlagen sind am prekärsten und sie sind am stärksten vom Klimawandel betroffen.
Eine Neuausrichtung der Debatte erfordert einen Wechsel von der oberflächlichen Inklusion zur systemischen Transformation. Das bedeutet, dass man sich aktiv mit intersektionellen Barrieren auseinandersetzen muss, anstatt davon auszugehen, dass alle Frauen mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert sind. Um einen sinnvollen Wandel herbeizuführen, müssen sich alle Beteiligten die Intersektionalität zu eigen machen:
- Berücksichtigung unterschiedlicher Bedürfnisse: Ein einheitlicher Ansatz für die Gleichstellung der Geschlechter und für Klimaschutzmaßnahmen ist unwirksam. Politische Maßnahmen müssen auf die spezifischen Realitäten von Frauen zugeschnitten sein, die mit wirtschaftlichen, ethnischen und ökologischen Nachteilen konfrontiert sind.
- Verhinderung einer weiteren Marginalisierung: Ohne ein ganzheitliches Bewusstsein besteht die Gefahr, dass politische Maßnahmen nur privilegierten Gruppen zugutekommen und die Ungleichheit weiter verfestigen.
- Aufbau integrativer Bewegungen: Echter Fortschritt erfordert eine vielfältige Repräsentation. Dabei müssen wir erkennen, dass wirtschaftliche Ausgrenzung die negativen Auswirkungen auf marginalisierte Identitäten und Gruppen noch verschärft.
- Umgestaltung systemischer Strukturen: Bei der Gerechtigkeit geht es nicht um bloße Inklusion, sondern um den Abbau eines Wirtschaftssystems, das die Ungleichheit in der Geschlechter- und Klimapolitik aufrechterhält.
Ein gerechter Wandel muss über Netto-Null-Ziele bei CO2-Emissionen und den Ausbau erneuerbarer Energien hinausgehen. Er erfordert eine Umverteilung der Macht, die Gewährleistung wirtschaftlicher Sicherheit für die am stärksten Betroffenen und den Abbau der Strukturen, die Frauen ausgegrenzt haben – und zwar einige mehr als andere – um sicherzustellen, dass niemand in diesem Prozess zurückgelassen wird.
Lösungen finden: vielversprechende Wege zu gender- und geschlechtergerechtem Wandel
Die Lösungen für diese Herausforderungen sind in Reichweite. Gerechte Löhne, Landrechte und Entscheidungsbefugnisse sind keine fernen Ideale, sondern erreichbare Schritte, die Wirtschaft und Communities verändern können. Die Frage ist nicht mehr, ob Geschlechtergerechtigkeit im Mittelpunkt der Klimaschutzmaßnahmen stehen sollte, sondern wie schnell wir die bereits vorhandenen Lösungen hochskalieren können. Professorin Kabeer griff auf das Papier zurück, das sie im Rahmen ihres Stipendiums an der Bosch Academy verfasst hat,[4] um auf die ihrer Meinung nach wiederkehrenden Themen in den Diskussionen über vielversprechende Wege für eine gerechte und nachhaltige Zukunft hinzuweisen, die von verschiedenen Gruppen geführt werden:
- Pflegearbeit als Herzstück eines gerechten Wandels. Obwohl unbezahlte und unterbezahlte Pflege- und Betreuungsarbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird, zu den Möglichkeiten und Bedingungen beiträgt, die Wohlstand schaffen und das Herzstück einer Wohlfahrtsökonomie sind, bleibt sie in den derzeitigen Wirtschaftsmodellen unsichtbar. Ein gerechter Wandel muss Betreuungsarbeit als wesentlich für eine nachhaltige Zukunft anerkennen, umverteilen und belohnen. Dies erfordert erhebliche Investitionen in die allgemeine Kinderbetreuung und die Pflege älterer Menschen sowie Maßnahmen wie bezahlten Urlaub aus familiären Gründen und flexible Arbeitsregelungen. Außerdem müssen Männer in die Lage versetzt werden, sowohl bei der bezahlten als auch bei der unbezahlten Pflegearbeit eine größere Rolle zu spielen.
- Soziale Absicherung ist für den Aufbau von Resilienz unerlässlich. Sie ermöglicht es den Menschen, den Kreislauf von Armut und Ausgrenzung zu durchbrechen, sich auf Krisen vorzubereiten und diese zu überstehen, sich von Schocks zu erholen und eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. Universelle soziale Absicherung bietet ein Sicherheitsnetz, das Frauen und gefährdete Gruppen in die Lage versetzt, ihr Wohlergehen zu sichern und für die Zukunft zu planen. Die Stärkung dieses Schutzes fördert mehr Gerechtigkeit und langfristige Nachhaltigkeit für heutige und künftige Generationen.
- Die globalen Klimafinanzierungs- und Wirtschaftssysteme müssen neu konzipiert werden. Das reichste Prozent der Welt besitzt 76 Prozent des globalen Reichtums, doch die Mechanismen der Klimafinanzierung belasten weiterhin den globalen Süden mit Schulden, anstatt die Umweltverschmutzer der Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen. Gerechte Umverteilung muss im Mittelpunkt der Klimaschutzmaßnahmen stehen. Konzerne müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Progressive Besteuerung und geschlechtergerechte Klimafinanzierung müssen eingesetzt werden, um die Ressourcen gerecht umzuverteilen.
- Die Rolle des Staates ist entscheidend für den Aufbau einer gerechten Zukunft. Die Rolle des Staates wird in vielen der Diskussionen über vielversprechende Wege zur Veränderung angesprochen. Die Diskutierenden sind sich einig, dass der Staat eine aktive Rolle übernehmen muss, um eine Politik voranzutreiben, die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fördert, die Zivilgesellschaft stärkt und ausgegrenzte Communities unterstützt. Dazu gehört, den gesellschaftlichen Willen zu stärken, Allianzen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, ausgegrenzten Stimmen und Basisbewegungen zu schmieden und den Stimmen marginalisierter Gruppen in Städten, einzelnen Stadtvierteln und ländlichen Gebieten mehr Gehör zu verschaffen.
- Transnationale, transregionale und lokale Solidarität. Diese Diskussionen stimmen jedoch auch darin überein, dass der Aufbau von Solidarität innerhalb und zwischen Gesellschaften der Schlüssel ist, um Staaten zur Rechenschaft zu ziehen und einen systemischen Wandel zu erreichen. Um von einem „Lose-Lose“- zu einem „Win-Win“-Ansatz zu gelangen, müssen Allianzen gebildet werden, die gesellschaftliche Bewegungen über Grenzen hinweg verbinden, von Frauenrechten bis hin zur Klimagerechtigkeit. Dazu gehört auch die Mobilisierung von Männern, von denen sich viele durch das derzeitige Wirtschaftssystem marginalisiert fühlen. Solche Allianzen werden dazu beitragen, dass die Stimmen der am stärksten Ausgegrenzten – also derjenigen, die in der sozioökonomischen Hierarchie ganz unten stehen – die Klimapolitik mitgestalten können, anstatt nur auf sie zu reagieren.
Dieser Beitrag beruht auf einem Workshop veranstaltet von der Robert Bosch Academy am 24.01.2025.
Frau Dr. Naila Kabeer ist emeritierte Professorin an der London School of Economics (LSE) und Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy.
Frau Dr. Grace Mbungu ist Senior Fellow am Africa Policy Research Institute (APRI).
Der Workshopbericht wurde verfaßt von Swetha Covaiselvan, Projektassistentin im Klimawandelprogramm des APRI.
[1]https://iwda.org.au/assets/files/Wellbeing-and-Feminist-Foreign-Policy-AFFPC-Issue-Paper-11-1-1.pdf
[2]https://afripoli.org/creating-a-just-social-order-the-role-of-gender-equity-in-climate-action
[3]https://theconversation.com/women-are-seen-as-saviours-or-victims-in-climate-change-debates-why-this-is-a-problem-244529
[4]Kabeer, N. (forthcoming). Gender justice and the wellbeing economy: concepts, findings and promising pathways. Paper prepared during her Fellowship at the Bosch Academy
Quarterly Perspectives
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