Der Multilateralismus muss Ergebnisse liefern

Dezember 2020

Die dringendsten Probleme der Welt sind global und erfordern multilaterale Antworten. Die wesentlichen politischen Mechanismen dafür existieren bereits. Doch um die anstehenden Aufgaben besser bewältigen zu können, müssen multilaterale Institutionen nicht nur Regierungen, sondern auch Wissenschaftlern, zivilgesellschaftlichen Gruppen und anderen Akteuren Raum geben, um zur Problemlösung beitragen zu können.

Von Danilo Türk

United Nations Security Council UNSC Multilateralism
UN Photo/Rick Bajornas

Die Welt sieht sich zwei großen Gefahren gegenüber: Eine wird von den gegenwärtigen Machtverschiebungen in den internationalen Beziehungen verursacht, die andere von verschiedenen grenzüberschreitenden Bedrohungen wie der Covid-19-Pandemie. Indes hat der Nationalismus als bekannte Reaktion auf Ungewissheit fast überall an Bedeutung gewonnen.

Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Welt, die von diesen Schwierigkeiten geplagt wird, schwer zu gestalten ist. Es besteht eine reale Möglichkeit, dass wir zukünftig ein weiteres Abgleiten in eine ungezügelte Rivalität und in Machtpolitik erleben. Aber diese Entwicklung ist nicht unvermeidbar. Globale Probleme wie die aktuelle Pandemie und die Erderwärmung verlangen eben globale Lösungen. Multilaterale Zusammenarbeit spielt dabei eine unverzichtbare Rolle. Die Frage ist: Wie kann diese Zusammenarbeit aussehen?

Die wesentlichen Mechanismen für multilaterale Kooperation existieren bereits

Fangen wir mit den Grundlagen an: Die multipolare Welt der Gegenwart und der Zukunft wird von Konkurrenz und Kooperation geprägt – und zwar gleichzeitig. Es ist eine Welt ohne naturgegebene Feindschaften, aber auch ohne Verbündete für die Ewigkeit. In dieser Welt gibt es eine Vielzahl von Akteuren, deren Machtspiele zu wechselnden Ergebnissen führen. Wer die gegenwärtige Situation als „zweiten Kalten Krieg“ beschreibt, irrt sich. Dennoch sind die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China, den beiden wichtigsten Mächten unserer Zeit, ernst zu nehmen. Ihre Beziehungen werden weiter im Zentrum der globalen politischen Dynamik stehen und wahrscheinlich angespannt bleiben. Dennoch wird anderen Akteuren viel Raum bleiben, darunter mittlere und kleine Mächte. Ihre Verantwortung für kreative Ideen und gemeinsames Handeln ist größer als je zuvor.

Auf der Ebene der internationalen Institutionen stehen wir vor einer Weiterentwicklung. Grundsätzlich bleiben die Vereinten Nationen (UN) hierbei unverzichtbar. Die UN sind die einzige wirklich universelle Organisation der Welt. Die Wichtigkeit der Grundprinzipien der UN-Charta bleibt unangetastet trotz der gegenwärtig eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Organisation. Die UN verfügen über einen reichen, vielfältigen Erfahrungsschatz. Ihre wertvolle Fähigkeit, relevante und mächtige Akteure zusammenzubringen, und ihre einzigartige Legitimität werden weiterhin gebraucht. Gleichzeitig werden regionale Organisationen wichtiger und neue regionale Organisationen werden weiterhin entstehen. Darüber hinaus behalten die G-20-Staaten ihr Potenzial für wichtige Beratungen und globales Krisenmanagement. Wie gesagt, die grundlegenden Mechanismen der dringend gebrauchten multilateralen Kooperation existieren bereits.

Die Qualität multilateraler Organisationen misst sich an der Qualität der Ergebnisse

Vor diesem Hintergrund widmete die World Leadership Alliance - Club de Madrid ihren jährlichen Policy Dialogue, der im Oktober 2020 stattfand, Fragen der multilateralen Kooperation. Das Ergebnis der Beratungen ist ein kurzes, aber gehaltvolles Papier mit dem sprechenden Titel „Multilateralism Must Deliver“. Die zentrale Schlussfolgerung unseres politischen Dialogs lautet, dass jetzt nicht die Zeit für Mutlosigkeit ist, geschweige denn für Verzweiflung. Jetzt ist die Zeit „zu liefern“ – die Zeit für kollektive Führung und energisches internationales Handeln.

Die Qualität von Politik und politischen Inhalten wird an der Qualität ihrer Ergebnisse gemessen. Das gilt auch für die Sphäre der multilateralen Organisationen. Deswegen liegt der Schwerpunkt auf dem „Lieferaspekt“ des Multilateralismus. Einige multilaterale Organisationen haben bereits Ergebnisse erzielt, die nicht übersehen werden dürfen. Die Einigung im Juli innerhalb der Europäischen Union – einer der führenden multilateralen Organisationen unserer Zeit – hat das Potenzial, ihre Mitgliedsländer in die Lage zu versetzen, die Pandemie und ihre Folgen zu bewältigen. Die Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds, die zum Ziel haben, die Schuldenlast der am wenigsten entwickelten Länder zu erleichtern, waren ein guter, wenn auch nicht voll zufriedenstellender Beginn. Wir sollten die Erfolge internationaler Organisationen anerkennen und sie ermutigen, mehr zu tun.

Der virtuelle G-20-Gipfel Ende November hat die Erwartungen nicht erfüllt. Hier sind weitere Anstrengungen nötig. Die Welt muss den gegenwärtigen Zustand des „Impfnationalismus“ überwinden und in die Produktion von neuentwickelten Covid-19-Impfstoffen auf hohem Niveau intensivieren. Die weltweite Verteilung muss zu bezahlbaren Kosten geschehen, sodass auch Länder mit schwachen Gesundheitssystemen ausreichend Hilfe erhalten. Darüber hinaus muss die Weltgesundheitsorganisation nachhaltig gestärkt werden. Dazu gehört eine Aufwertung ihrer Befugnisse und Ressourcen, um Infektionskrankheiten zu bekämpfen und zukünftige Pandemien zu verhindern. Die künftigen Beitragszahlungen der G-20-Staaten sind in diesem Kontext von kritischer Bedeutung.

Den „grünen Aufschwung“ planen

Auch in anderen dringenden Fragen der Kooperation ist die Welt bestenfalls auf halber Strecke. Die Verpflichtungen, die die EU für einen grünen, ökologischen Aufschwung eingegangen ist, und die jüngsten Äußerungen der Regierungen in Japan, China und Russland in Bezug auf den Fortschritt der CO2-freien Wirtschaftsentwicklung bis zum Jahr 2050 oder 2060 müssen in kurz- oder mittelfristige Programme einfließen, die auch die Zeit bis 2030 abdecken. Die Klimakonferenz COP26, die im November 2021 in Glasgow stattfinden soll, wird eine erste Gelegenheit für einen kräftigen Schub in diese Richtung bieten.

Es gibt andere Bereiche der internationalen Kooperation, in denen die Welt stark zurückgefallen ist. Dazu gehören eine Reihe von Fragen im Feld der Rüstungskontrolle und der Abrüstung sowie die Notwendigkeit, globale Steuerflucht, Steueroasen und die damit verbundene Korruption zu bekämpfen. Vor allen Dingen sind sehr viel stärkere multilaterale Anstrengungen nötig, um die Digitalisierung, künstliche Intelligenz und die Zukunft des Internets auf globaler Ebene zu gestalten. Idealerweise sollte das Ergebnis ein multilaterales Abkommen sein, das manchmal mit der Metapher „Bretton Woods der Digitalisierung“ beschrieben wird.

Raum für andere Akteure schaffen

All das stellt eine große Herausforderung dar. Multilaterale Institutionen müssen besser ausgerüstet sein, um die existierenden und sich erst herausbildenden Aufgaben zu meistern. Sie sind auf eine aktivere Teilnahme ihrer Mitglieder angewiesen und müssen sich für ein breiteres Spektrum an Akteuren öffnen. Sie sollten nicht nur für Regierungen, sondern auch für Wissenschaftler, die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, Gewerkschaften und andere Akteure Raum bieten, die zur Problemlösung und zur Verbesserung der Welt beitragen können.

Nichts von alledem vermindert den Stellenwert der Diplomatie. Ganz im Gegenteil, jetzt ist die Zeit für kraftvolles und innovatives diplomatisches Handeln. Die jüngsten Wahlen in den USA bieten die Gelegenheit für Fortschritte in diese Richtung. Die Allianz für Multilateralismus, die Frankreich und Deutschland 2019 ins Leben gerufen haben, bietet eine Chance für gemeinsame Führung. Dabei ist es wichtig, überzogene Erwartungen zu vermeiden. Doch neue Möglichkeiten tun sich auf – nutzen wir sie!


Die Robert Bosch Stiftung war ein Partner des Policy Dialogue 2020 des Club de Madrid.
 

Danilo Türk Club de Madrid

Danilo Türk ist Präsident des Club de Madrid – einer Organisation von 116 ehemaligen, demokratisch gewählten Präsidenten und Premierministern. Von 2007 bis 2012 war er Premierminister der Republik Slowenien.

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