Vorfahrt für die Moral: eine Globale Beobachtungsstelle für Genome Editing

Dezember 2020

Bei der Nutzung mächtiger Instrumente in der Biotechnologie muss die moderne Wissenschaft ihren isolierten Fokus auf die sichere Anwendung aufgeben. Sie sollte vielmehr die ethische Frage nach dem Wohlergehen der Menschheit in den Mittelpunkt stellen. Eine Globale Beobachtungsstelle für Genome Editing soll zu dieser Weiterentwicklung beitragen.

Von Sheila Jasanoff

Genome Editing
AdobeStock/Stanislav Uvarov

Der Nobelpreis ist die höchste Auszeichnung in der Wissenschaft. Er ehrt sowohl herausragende Durchbrüche, die die konzeptionellen Grundlagen einer wissenschaftlichen Disziplin verändern, als auch technologische Innovationen, die die Art und Weise revolutionieren, wie Wissenschaft betrieben wird. Weniger bekannt ist der Nobelpreis für seinen Beitrag an der Entstehung neuer Menschheitsträume. In dieser Funktion ist die Auszeichnung mehr als eine Ehrung für höchste wissenschaftliche Errungenschaften: Die „Traummaschine“ Nobelpreis eröffnet auch Laien neue Horizonte und versetzt sie in die Lage, sich eine bessere Welt mit ganz neuen Möglichkeiten vorzustellen.

Ein gutes Beispiel dafür ist der diesjährige Nobelpreis für Chemie für Emmanuelle Charpentier von der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene und Jennifer Doudna von der University of California at Berkeley. Die beiden Wissenschaftlerinnen erhielten die weltweit beachtete Auszeichnung für „die Entwicklung einer Methode zum Genome Editing“. Aber die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften ging über dieses trockene, faktenorientierte Statement noch hinaus und machte dadurch deutlich, dass es sich in diesem Fall nicht um einen bloßen Fortschritt in wissenschaftlicher Methodik handelte. Ihre Pressemitteilung vom 7. Oktober 2020 beschrieb die Entdeckung „als ein Instrument, mit dem der Code des Lebens umgeschrieben werden kann“.

Diese Wortwahl stellte eine Verbindung zwischen dieser preiswürdigen Entdeckung und einem früheren wissenschaftlichen Durchbruch her: der Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNA, dem berühmten „Code des Lebens“, durch James Watson und Francis Crick im Jahr 1953. Die Formulierung suggerierte auch, dass die Wissenschaft den Code des Lebens bisher nur entziffern konnte, während sie in Zukunft die Fähigkeit hat, diesen Code neu zu schreiben und damit die Substanz des Lebens umzuformen. Solche weitreichenden Behauptungen kursierten in Kreisen der Gentechnologie bereits Jahre bevor der jüngste Nobelpreis vergeben wurde. Sie waren die Grundlage für mein Projekt als Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy. Mein Fachgebiet ist die demokratische Kontrolle von Wissenschaft und Technologie. Ein Ziel meiner Arbeit ist es sicherzustellen, dass die Gesellschaft – und nicht Wissenschaftler allein – den Sinn und Zweck der Wissenschaft und des technologischen Fortschritts öffentlich diskutiert und über angemessene Grenzen entscheidet.

Welche Art von Fortschritt wollen wir als Gesellschaft?

In meinem Buch aus dem Jahr 2018 „Can Science Make Sense of Life?“ habe ich dargestellt, wie sich die Wissenschaft das Recht genommen hat, sich selbst zu überwachen, ohne Raum für eine öffentliche Diskussion zu lassen. Wissenschaftliche Narrative neigen dazu, Entdeckungen auf „Heureka-Momente“ individueller Inspiration zu reduzieren. Technologischer Fortschritt wird so als etwas Zwangsläufiges dargestellt und die politischen und ökonomischen Interessen, die hinter der Wissenschaft stehen, werden ausgeblendet. Die Pressemitteilung des Nobel-Komitees zeigt uns genau das: Von Charpentiers „unerwarteter“ Entdeckung der „genetischen Schere“ CRISPR/Cas9 bis zum „bahnbrechenden“ Experiment, mit dem dieses technologische Werkzeug zu einem Mittel wurde, „das der Menschheit größten Nutzen bringt“.

Dieses Vorgehen der Wissenschaft muss sichtbar gemacht und diskutiert werden, wenn die Bürger wieder in die Lage versetzt werden sollen, selbst zu entscheiden, was wünschenswerte Fortschritte für die Menschheit sind. Während meines Fellowships habe ich gemeinsam mit meinen Kollegen J. Benjamin Hurlbut von der Arizona State University und Krishanu Saha von der University of Wisconsin at Madison eine Initiative auf den Weg gebracht, die wir Globale Beobachtungsstelle für Genome Editing nennen.

Für das Frühjahr 2020 war ein Auftakttreffen zum Thema „Genome Editing und Menschenwürde“ an der Robert Bosch Academy in Berlin geplant. Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde das Treffen abgesagt und komplett anders organisiert. Schließlich fanden eine Reihe von Online-Meetings am 10. und 11. September 2020 statt. Auf dunkle Regenwolken folgt irgendwann auch wieder die Sonne – und in diesem Fall entstand aus der Verschiebung etwas unerwartet Fruchtbares: Im Sommer erreichte uns die gute Nachricht, dass die John Templeton Foundation den Projektstart fördern und in den kommenden Jahren finanziell weiter begleiten wird. Das virtuelle, von der Robert Bosch Academy unterstützte Meeting bot dem Führungsteam der Beobachtungsstelle so die Gelegenheit, sich Input und Rat einer international angesehenen Gruppe von Wissenschaftlern, Rechtsexperten, Policy-Makern und Vertretern der Zivilgesellschaft zu holen. Durch diese Gespräche konnten wir Netzwerke knüpfen, die der Mission der Beobachtungstelle neue Impulse geben und einen noch lebhafteren inklusiven Dialog in Gang setzen – über Disziplinen, Institutionen und nationale Grenzen hinweg.

Moralische Werte müssen an erster Stelle stehen

Die wichtigste Aufgabe der Globalen Beobachtungsstelle für Genome Editing ist es, die thematische Bandbreite der Fragen und der Antworten zu vergrößern, die in den Grenzbereichen der Biotechnologien gestellt werden. Sie soll Fachcommunities zusammenbringen, die sich normalerweise nicht über ihre Positionen zum Forschungsstand, zu Gutachten oder zur Rolle politischer Institutionen austauschen. Durch diese interdisziplinäre Vernetzung will die Beobachtungsstelle sich tiefergehend mit einer Reihe von wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen auseinandersetzen, die im Begriff sind, die Definition dessen zu verändern, was „Mensch sein“ bedeutet.

Ein großer Teil der Debatte um Genome Editing geht davon aus, dass diese Techniken auf die menschliche Keimbahn angewendet und wahrscheinlich den Lauf der menschlichen Evolution verändern werden. Die Pressemitteilung des Nobelkomitees hat diesen Eindruck der Zwangsläufigkeit noch verstärkt, indem sie feststellte, „dass es jetzt möglich ist, den Code des Lebens innerhalb weniger Wochen zu verändern“. Diese Formulierung legt auch nahe, dass es nun die dringendste Aufgabe ist, ein anwendbares Regelwerk zu entwickeln, damit Genome-Editing-Technologien nicht auf unsichere und unethische Weise eingesetzt werden.

Solche Rhetorik lässt nur wenig Raum für moralische oder politische Diskussionen zu, weil sie impliziert, dass die Wissenschaft das Rad des Fortschritts schon in Bewegung gesetzt hat und dass dieses Rad praktisch nicht mehr gestoppt werden kann. Aber wie wäre es, wenn wir diese Diskussion vom Kopf auf die Füße stellen? Wenn wir zuerst über moralische Werte sprechen und erst anschließend über die Ziele des Genome Editing? Das würde verlangen, dass wir die enge Fragestellung nach der sicheren Nutzung der Technologie auf globalere Fragen danach erweitern, was wir uns unter dem Wohlergehen der Menschheit vorstellen. Die Antworten darauf umfassen philosophische, rechtliche und spirituelle Traditionen und sollten Leitlinien für den Einsatz dieser mächtigen technologischen Instrumente sein.

Eine „kosmopolitische Ethik“ des Genome Editing entwickeln

Genau diese Diskussionen will die Beobachtungsstelle fördern. Ihre Aktivitäten sollen die Verbindungen und Unterschiede offenlegen, die weltweit beim Schutz der Integrität des Menschlichen Lebens bestehen – sowohl in praktischen Fragen als auch in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung. Die Beobachtungstelle wird sich auch mit den Problemen beschäftigen, die daraus entstehen, dass die Interessen der Wissenschaft Vorrang vor den Interessen der Menschheit haben.

Zu diesen Problemen gehören die illegitime Aneignung von Entscheidungskompetenzen durch die Wissenschaft, die verengte Perspektive und die Exklusion anderer Sichtweisen. Wir hoffen so sichtbar zu machen, wie wir uns auf der Basis unterschiedlicher rechtlicher und moralischer Traditionen mit Fragen nach vermeintlich unveränderlichen und unverletzlichen Konzeptionen von Menschlichkeit und Menschsein befassen können. Es soll auch deutlich werden, wie sich diese Traditionen konkret ausdrücken und wie sie zu politischen Debatten über die Grenzen der Biotechnologie beitragen oder nicht beitragen.

Insgesamt will die Globale Beobachtungsstelle eine stärker „kosmopolitische Ethik“ entwickeln, die Diskussionsleitlinien für dieses sich schnell entwickelnde Gebiet etablieren kann. Das virtuelle internationale Meeting im September 2020 unter der Schirmherrschaft der Robert Bosch Academy war der ideale Auftakt für diese Diskussionen, die in den kommenden Jahren an Intensität und Bedeutung gewinnen werden.

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Sheila Jasanoff ist Pforzheimer Professorin für Naturwissenschaft und Technik an der Harvard Kennedy School und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.

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