Den Multilateralismus mit kulturellen Werten erneuern
Der Multilateralismus scheint stärker angeschlagen als jemals zuvor. Aber eine global wachsende Zivilgesellschaft bietet ein starkes Mandat für einen erneuerten Multilateralismus, der sich auf universelle Werte stützt. Die Covid-19-Pandemie eröffnet ein einmaliges Gelegenheitsfenster, durch die inklusivere Institutionen entstehen können, die nachhaltig Nutzen bringen.
von JP Singh
Der gegenwärtige Zusammenbruch multilateraler Institutionen lässt ein weiteres „Ende der Geschichte“ erahnen. Allerdings eines, das ganz anders sein wird als dasjenige, das 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer begann. An die Stelle eines expansiven Liberalismus und einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung scheinen brüchige multilaterale Institutionen zu treten, die das Ende einer Ära ankündigen. In vielen Staaten wird nun zunehmend national gedacht, man schwenkt auf eine stark populistische und autoritäre Politik um.
Aber lassen wir die Untergangsszenarien beiseite. Denn es bestehen auch immense Chancen für die heutige Welt, eine neue internationale Ordnung zu schaffen, die auf gemeinsamen kulturellen Werten beruht, die von verschiedenen Völkern, politischen Führungspersönlichkeiten und Institutionen geteilt werden. Die Chance liegt in einem Narrativ der Gegenkultur, dass das Leben der Menschen überall auf der Welt verbindet: von der Black-Lives-Matter-Plaza in der US-Hauptstadt Washington über den Unabhängigkeitsplatz in Belarus bis hin zu Greta Thunberg, die bei den Vereinten Nationen spricht und einem Einwohner der Bahamas, der den Hurrikan Dorian erlebt hat. Vom Kopfsteinpflaster der Dorfstraßen bis zu den Marmorsälen der hohen Diplomatie bieten diese kulturellen Werte Legitimität für multilaterales, kollektives Handeln, das genutzt und institutionalisiert werden kann.
Die weltweit geteilten kulturellen Werte stehen in Kontrast zu dem Multilateralismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch die gemeinsamen Interessen weniger Länder entstand und durch eine globale Elite artikuliert wurde. Mit anderen Worten: Die Legitimität des alten Multilateralismus basierte auf den Erwägungen einiger Weniger, auch wenn er im Laufe der Zeit von weiteren nationalen und internationalen Akteuren akzeptiert wurde. Ein neuer oder erneuerter Multilateralismus könnte eine weitverbreitete Akzeptanz erlangen. Doch die globalen Führungspersönlichkeiten, die das möglich machen könnten, sind noch nicht in den Vordergrund getreten. Der Rückzug der USA aus der gegenwärtigen, vom Westen dominierten internationalen liberalen Ordnung und Chinas Kompromisslosigkeit lassen vielmehr eine andere Entwicklung erwarten.
Kulturelle Werte im Wandel
Kulturelle Werte werden kollektiv vertreten und verleihen bestimmten Ideen und Konzepten Gewicht. Der alte Multilateralismus war vielleicht für die Interessen von Nationalstaaten attraktiv, um Kompromisse zu schließen. Doch dieser alte Multilateralismus basierte auf Werten, die aus der europäischen Aufklärung heraus entstanden waren. Nationale Interessen erstreckten sich deshalb auch auf weitergehende kulturelle Beziehungen. Austausch und Offenheit waren gut. Die Staaten setzten nicht auf persönliche Autorität, sondern zogen formelle Regeln und Institutionen vor, deren Personal aus Technokraten bestand.
Die Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Anknüpfungspunkte an die Vorkriegszeit. Es waren Ingenieure, die, angetrieben von Nationalstaaten und global agierenden Unternehmen, Technologien und Standards entwickelten, um die Telegrafenlinien zwischen den Staaten zu verbinden. Eine Internationale Telegraphen Union wurde 1865 gegründet, der Vorgänger der heutigen ITU. Das Experiment des Völkerbundes aus der Zeit zwischen den Kriegen war zwar nicht erfolgreich, aber politische Führer aus aller Welt trafen sich in Bretton Woods, um den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank ins Leben zu rufen. Weitere Treffen fanden statt in Dumbarton Oaks, einem Herrenhaus in Washington DC, das 1944 die Geburtsstätte der Vereinten Nationen war, und 1948 in Havanna, wo das erste Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) zum Leben erweckt wurde.
Die multilaterale Nachkriegsordnung legt aber auch Ausgrenzungen und Widersprüche offen. Kulturelle Werte wurden durch nationale Interessen gefiltert und multilaterale Organisationen spiegelten die Privilegien nationaler Eliten wider. Die meisten Architekten der Nachkriegsordnung waren Kolonialisten und Rassisten. Präsident Franklin Roosevelts enorm einflussreicher Außenminister Cordell Hull glaubte, dass die Zivilisation dem Westen gehörte. In seinen zweibändigen Memoiren finden die Unabhängigkeitsbewegungen kaum Erwähnung. Der südafrikanische Premierminister Jan Smuts, der dabei half, die UN zu gründen, glaubte, dass Schwarze minderwertig seien. Julian Huxley, der erste Generaldirektor der UNESCO, war ein bekannter Eugeniker.
Um an den Worten Woodrow Wilsons zu rütteln, die er 1918 in seinem „14-Punkte-Programm für den Frieden“, seinem Gründungstext des Internationalismus, verwendet hatte: Bei den Verträgen der alten multilateralen Ordnung handelt es sich eben nicht um „offene, öffentlich abgeschlossene Friedensverträge“. Wie wir heute wissen, war Wilson selbst ein überzeugter Rassist.
Der Zusammenbruch der alten multilateralen Ordnung
Einmal geschaffene Institutionen müssen ihren Ausgrenzungscharakter nicht behalten. Davon zeugt die Geschichte der meisten nationalen Institutionen. Dass der Parteitag der US-Demokraten im Juli dieses Jahres auf das Versprechen „eines immer vollkommeneren Bundes“ in der amerikanischen Verfassung Bezug nimmt, unterstreicht diesen Punkt. Die alte multilaterale Ordnung – auch als liberale internationale Ordnung bezeichnet – sorgte für Stabilität in der Nachkriegs- und postkolonialen Welt. Nach und nach begann sie auch die Ausgegrenzten zu berücksichtigen. Führungskräfte aus ehemaligen Kolonialländern stehen jetzt an der Spitze von 31 Organisationen im UN-System.
Darüber hinaus bringt die sich ausbreitende, progressive globale Zivilgesellschaft Themen auf die Agenda, die von nationalen und internationalen Politikern in multilateralen Institutionen schwierige Kompromisse erfordern. Dazu gehören Aufgaben wie die Begrenzung der CO2-Emissionen, die Öffnung von Grenzen für Flüchtlinge und Einwanderer und die Regulierung von aggressiven Konzernen oder Steuerflucht. Obwohl multilaterale Themen im Jahr 2020 nicht auf der Tagesordnung zu stehen scheinen, gibt es viele Beispiele für erfolgreiche multilaterale Errungenschaften, die mit Initiativen der Zivilgesellschaft begannen, zum Beispiel in Bereichen wie Klimawandel, Menschenrechte, Gesundheit, Bildung, Sicherheit und internationale Entwicklung.
Andererseits hat die Arbeit an einem „immer vollkommeneren Bund“ in der multilateralen Ordnung auch eine Art globalen Bürgerkrieg ausgelöst. Als neue Mächte am Tisch Platz nahmen und ihre Interessen vertraten, fühlten sich die alten Platzhirsche bedroht. Die Ordnung begann zu bröckeln, als ihr Chefarchitekt – die USA – sich aus Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation zurückzog und andere, wie die Welthandelsorganisation und traurigerweise sogar die NATO, mit Drohungen überzog. Letztere eine Organisation, die aus den engsten US-Verbündeten besteht. China, die andere Großmacht, versucht mittlerweile internationalen Institutionen den eigenen Willen aufzuzwingen, zum Beispiel mit seiner Initiative der Neuen Seidenstraße und der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB).
Das Globale wird immer lokal gespürt und verarbeitet. Populistische und autoritäre Politiker in vielen demokratischen Ländern nutzen kulturelle Ängste auf der lokalen Ebene aus, die durch globalisierte Kulturen und Volkswirtschaften geschaffen worden sind. Zu den anti-multilateralen Merkmalen dieses populistischen Gemischs gehören sowohl Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile gegen Minderheiten als auch Grenzschließungen und das Verteufeln von Migranten. Populisten treten für den Rückzug aus existierenden internationalen Organisationen ein und fördern vielfach den Aufbau von rechtsextremen Bewegungen über Landesgrenzen hinweg. Führende Politiker aus Ländern wie Brasilien, Großbritannien, Indien, den Philippinen, Polen, Türkei, Ungarn und den USA haben bereits explizit eines oder mehrere Elemente dieser populistischen Mischung in ihrer nationalen Politik genutzt. Diese Elemente finden sich jedoch in den meisten demokratischen Ländern in rechtsextremen und populistischen Parteien.
Die globale Zivilgesellschaft auf dem Weg in die Zukunft
Vorschläge für die nächste Phase des Multilateralismus mögen inmitten des weltweiten Aufstiegs populistischer Politik töricht erscheinen. Trotzdem gibt es ein starkes Mandat für einen neuen oder erneuerten Multilateralismus, das sich auf universelle Werte stützt. Globale Probleme lassen sich nicht auf der nationalen Ebene lösen und eine globale Gesellschaft lässt sich nicht auf provinzielle Maßstäbe schrumpfen. Weltweite Umweltabkommen sind vielleicht schwer durchzusetzen, aber die globale Zivilgesellschaft gewinnt an Stärke und macht Druck, damit diese Abkommen umgesetzt werden. Trotz des Brexit und Trumps Nationalismus: Die Wertschätzung für kulturelle Vielfalt, aber auch das Bewusstsein für die Unterdrückung in der Welt wächst. Trump hat nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen in den Wahlen von 2016 bekommen und die Brexit-Befürworter haben nur mit einem hauchdünnen Vorsprung gesiegt. Für drei Viertel der Menschheit in den Entwicklungsländern sind weder reflexartiger Nationalismus noch das Befolgen von Marschbefehlen ehemaliger Kolonialmächte akzeptabel. Die meisten Menschen haben multilaterale Institutionen nicht aufgegeben. Multilaterale Institutionen und Geberländer mussten sich aber an den Druck von unten anpassen.
Während die extreme Rechte in vielen Ländern wächst, tun das auch Bewegungen der Mitte und progressive Kräfte. Zeugen dafür sind die Black-Lives-Matter-Proteste oder der Sturz der Denkmäler, die an die vermeintlichen Helden des amerikanischen Bürgerkrieges im konföderierten Süden erinnern. Selbst Großbritannien hat nach dem Brexit versucht, in großer Eile internationale Abkommen zu unterzeichnen, um seine Handelsbeziehungen aufrecht zu erhalten.
Auf dem Weg in die Zukunft bleiben die meisten Staaten und Gesellschaften einer multilateralen Ordnung verpflichtet. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten müssen multilaterale Netzwerke und Institutionen weiter stärken. Zweitens müssen Regeln und Entscheidungen auf der internationalen Ebene die globale Zivilgesellschaft abbilden oder repräsentieren, um ihre Legitimität zu stärken. Die Regeln müssen inklusiv sein. Die Tage sind vorbei, in denen der Internationale Währungsfonds der Welt vorschreiben konnte, die bittere Pille ökonomischer Restrukturierung zu schlucken. Vorbei ist auch die Zeit für Ökonomen, deren Mantra von der wirtschaftlichen Effizienz kulturelle Ängste und Arbeitslosenstatistiken ignoriert hat. Immer stärker achten Ökonomen jetzt auf die Auswirkungen des Handels auf Jobs und nicht nur auf das Wirtschaftswachstum.
Kulturelle Werte sind pluralistisch, evolutionär und widersprüchlich. Sie bilden ein historisches Repertoire, an das verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Erinnerungen haben. Hinter der Betonung eines einzigen Wertes steckt oft ein reaktionärer oder strategisch-politischer Zweck. Die Vorstellung, dass Indien ein Hindu-Staat sei oder Amerika früher einmal „großartig“ war, sind solche reaktionären Ansichten. Der Kampf wird heute zwischen stärker werdenden multilateralen Werten auf der einen Seite und provinziellen Populismen auf der anderen Seite ausgefochten. Letztere rufen kulturelle Ängste und Ungleichheiten hervor. Fest verwurzelte und bedrohte Machstrukturen lösen sich nicht einfach auf.
Die Erneuerung einer multilateralen Ordnung scheint eine epochale Aufgabe zu sein. Die Geschichte lehrt uns, dass Schritte nach vorn stets inkrementell sind. Die europäischen Nationalstaaten gingen aus dem Westfälischen Frieden hervor, doch es folgten weitere Abkommen, die den Friedensvertrag stärkten. Die Charta zur Gründung der Vereinten Nationen lässt sich hunderte von Jahren zurückverfolgen, bis zur Formulierung einer regelbasierten Ordnung und einer Neudefinition nationaler Autorität. Globale Konflikte und Umwälzungen eröffnen oft einmalige Gelegenheiten. Nach Covid-19 und der populistischen Pandemie kann die Welt die Forderung nach universellen kulturellen Werten weiter stärken, sowohl innerhalb als auch außerhalb bereits existierender multilateraler Institutionen.
J.P. Singh ist Professor of International Commerce and Policy an der Schar School of Policy and Government an der George Mason University und Fellow der Robert Bosch Academy. Er ist Herausgeber des aktuellen Sammelbandes Cultural Values in Political Economy (Stanford, 2020).
Quarterly Perspectives
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