Die Vorstellung von Deutschlands pluralistischer Zukunft

September 2024

Den Pluralismus feiern, der die Gegenwart ist, die Vergangenheit war und auch die Zukunft darstellt

von Sanam Naraghi Anderlini

Sanam Anderlini - Germanys Pluralistic Future

Experten hatten den Höhenflug der rechtsextremen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) bei den drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg in diesem September vorausgesagt, dennoch lösten die Ergebnisse Panik und eine Art Lähmung aus. Viele befürchten, dass die Vergangenheit ein Comeback feiert.

Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass Symbole aus der Nazi-Zeit in der Öffentlichkeit wieder öfter zu sehen sind und dass im Januar dieses Jahres auf einer geheimen Versammlung von Anhänger:innen aus dem rechtsextremen Spektrum über die „Remigration“ von Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert wurde. Obwohl es einen öffentlichen Aufschrei gab und die Regierung neue Gesetze zur Regelung der Staatsbürgerschaft auf den Weg brachte, sind diese Ideen nun in der Öffentlichkeit präsent. Im März lachten und sangen wohlhabende junge Leute auf der Nordseeinsel Sylt zu Popmusik eine verbotene Nazi-Parole und riefen unter anderem Slogans wie „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“. Der sogenannte „Hitlergruß“, der in Deutschland verboten ist, ist heute bei rechten Kundgebungen gang und gäbe.

Aber die Stimmen für die AfD bei den Wahlen sind kein Ausdruck von Nostalgie. Es ist die aktuelle Wut über die heutige Politik des Status quo, die zu den Wohlstandsunterschieden und der soziokulturellen Spaltung zwischen Ost und West, Stadt und Land geführt hat. Als „Alternative“ präsentiert die AfD eine Zukunftsvision der „Vernunft“ und vom „Stolz sein auf Deutschland“. Ähnlich wie das Projekt 2025 der US-amerikanischen MAGA-Bewegung vermischt das AfD-Manifest einen selektiven Blick durch die rosarote Brille auf Deutschlands vermeintlich großartige Vergangenheit mit Verweisen auf die preußische Kultur und Dichtung und eine Reihe von Pseudolösungen für sozioökonomische Missstände.

Weil Mikrotargeting eine wichtige AfD-Taktik ist, bietet das Parteiprogramm für jeden etwas, auch wenn die Forderungen unmöglich umzusetzen sind – doch Emotionen gehen vor Genauigkeit. Indem die AfD die Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen anspricht, appelliert sie an das Bauchgefühl und setzt sich so auch in den Köpfen der Wähler:innen fest.

Die Frustrierten im Visier

Ebenso wichtig ist, dass die politischen Slogans Themen ansprechen, die die Menschen über das gesamte politische und soziokulturelle Spektrum hinweg frustrieren. Im Rahmen meiner Forschungsarbeit zu Polarisierung und sozialem Zusammenhalt traf ich mich beispielsweise mit Vertreter:innen lokaler NGOs, Gemeinderäten und Mitgliedern der Bundesregierung, um über Sozialprogramme zu diskutieren. Alle sagten, sie seien frustriert überbürokratische Hürden, über Gesetze, die Innovation und Flexibilität verhindern, und über Budgetkürzungen – obwohl das Interesse der Menschen an ehrenamtlichem Engagement groß ist. In einem Milchviehbetrieb in Brandenburg wurde diese Frustration an einem praktischen Beispiel deutlich: „Früher mussten wir ein dreiseitiges Formular über die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Kühe ausfüllen“, sagte der ansässige Tierarzt, „heute ist es ein 40-seitiges Dokument.“ Das Parteiprogramm der AfD fordert den Abbau dieser Bürokratie.

Darüber hinaus verzerrt oder vereinfacht die AfD die Politik der Parteien der Mitte als übermäßig „woke“ und weltfremd und positioniert sich und ihre rechten Verbündeten als die Partei des gesunden Menschenverstands. „Sie verabschieden Gesetze, um zu kontrollieren, was wir essen“, spottete ein konservativer Kommentator über die Koalitionsregierung. „Sie wollen Frauen auslöschen“, sagte ein anderer in Reaktion auf die Transgender-Politik. AfD-Politiker:innen konzentrieren sich auch auf die demografische Entwicklung: „Sie lassen zu viele Einwanderer ins Land“, sagen viele. Darauf folgen in der Regel Kommentare, die sich auf die steigende Kriminalität beziehen. Musliminnen, insbesondere solche, die einen Hidschab tragen, werden beschuldigt, sich nicht zu integrieren und eine existenzielle Bedrohung für das kulturelle Gefüge in Deutschland darzustellen.

Die Normalisierung dieses von der Ideologie einer „weißen Vorherrschaft“ geprägten Diskurses schürt in einer Zeit des extremen Pluralismus Spaltung und Polarisierung. Es ist ähnlich wie in anderen Kontexten, in denen Extremisten tief liegende, emotional wichtige Facetten unserer Identität wie Glaube oder ethnische Zugehörigkeit, einschließlich Islam, Judentum, Hinduismus und sogar Buddhismus, vereinnahmt und verzerrt haben, um Zwietracht zu säen und einen Machtkampf anzuheizen: Die Strategie von Extremisten in einer pluralistischen Gesellschaft besteht darin, Angehörigen einer bestimmten ethnisch-religiösen Identität gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen Privilegien einzuräumen und dies als Waffe einzusetzen, um Diskriminierung zu rechtfertigen. Sie treten auch für eine männliche Vormachtstellung ein. Extremisten kennen die Bedeutung von Frauen in Familien und den traditionellen sozialen Strukturen. Daher wählen sie gezielt Frauen aus, um ihre Bewegungen zu repräsentieren. Und das tun sie, wie wir bei der AfD sehen, obwohl sie stark frauenfeindliche Positionen vertreten.

Die Drei-Parteien-Koalition, die Deutschland regiert, verfehlt derweil das Ziel. Indem SPD, Grüne und FDP versuchen, die AfD zu diskreditieren, riskieren sie, die Unterstützung für sie als die unterlegene „Alternative“ zu stärken. Der Versuch, die AfD wegen ihrer Anklänge an nationalsozialistische Positionen aus der Regierung auszuschließen, um die Demokratie zu bewahren, könnte ebenfalls nach hinten losgehen. Die ständige Wiederholung der altbekannten Anti-Immigrations-Slogans schürt die Polarisierung und das Misstrauen in der Gesellschaft weiter. Die Menschen zu verängstigen, damit sie für die Parteien der Mitte und gegen die AfD stimmen, weil eben diese Extremisten eine Bedrohung für die Demokratie seien, mag kurzfristig funktionieren, kann aber keine langfristige Strategie darstellen.

Wir brauchen eine gemeinsame Vision

Um die Entwicklung der politischen Zukunft weg von den Extremen zu lenken, müssen die Parteien der Mitte ironischerweise von der extremen Rechten lernen. Zum Beispiel dadurch, dass sich gemäßigte Parteien effektiver mit ähnlichen fortschrittlichen Bewegungen auf der ganzen Welt vernetzen. Zu diesem Lernprozess gehört auch, wieder in den ländlichen Gebieten Deutschlands Fuß zu fassen und mit vertrauenswürdigen Organisationen vor Ort und deren Vertreter:innen ein gutes, stabiles Verhältnis aufzubauen. Am wichtigsten ist es, ein positives Bild von der Zukunft zu entwickeln und eine mutige Vision zu haben. In dieser Hinsicht ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Parteien der politischen Mitte, anstatt sich der Fremdenfeindlichkeit der extremen Rechten und Linken hinzugeben, den Mut haben, den Pluralismus anzuerkennen, zu umarmen und zu feiern. Dieser Pluralismus ist die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft Deutschlands.

In der Praxis bedeutet dies, einige grundlegende Annahmen über die „deutsche Identität und Geschichte“ zu überdenken. Zum Beispiel gibt es die Vorstellung, dass Deutschland historisch gesehen kein Einwanderungsland, also kein Land von Migrant:innen ist. Doch seit den 1950er Jahren kamen Menschen aus der Türkei, Italien, Polen und anderen Ländern nach Deutschland. Sie bauten ein Land wieder auf, das in Schutt und Asche gelegt worden war. Sie kamen als Arbeiter:innen, aber sie brachten auch ihren Kulturreichtum und neue Spezialitäten mit – der allgegenwärtige Döner Kebab ist nur eines der offensichtlichsten Beispiele. Angesichts einer alternden Bevölkerung braucht Deutschland heute jüngere Arbeitskräfte in allen Berufen und Branchen. Anstatt der verzerrten Vorstellung von „guten und schlechten Migrant:innen“ neuen Rückenwind zu geben, könnten die Parteien der Mitte über die kulturelle Lebendigkeit und den Beitrag sprechen, den Einwander:innen leisten können. Sie könnten die Art und Weise, wie Geflüchtete behandelt werden, verändern, damit deren Fähigkeiten und Talente bewertet und in die Wirtschaft eingebracht werden können. Diejenigen, die in jüngster Zeit aus Syrien, dem Iran, Afghanistan und anderen kriegsgebeutelten oder diktatorischen Staaten gekommen sind, bringen eine Fülle von Talenten, Bildung und Energie mit, um Deutschlands Zukunft mit aufzubauen. Und anstatt anzunehmen, dass die Regierungen der vergangenen Jahre mit ihrer Einwanderungspolitik gescheitert sind, weil sie diesen Geflüchteten die Türen geöffnet haben, sollten wir diese Regierungen dafür loben, dass sie die Menschlichkeit Deutschlands unter Beweis gestellt haben. Auch wenn Muslim:innen, Sikhs, Jüd:innen oder andere Menschen deutscher oder ausländischer Herkunft einen Hijab oder Turban tragen, sollte die politische Elite nicht den Rassismus schüren, der behauptet, diese Menschen seien eine Bedrohung für deutsche Werte und deutsche Kultur. Im Gegenteil: Ihre Kleidungswahl sollte als Zeichen dafür gesehen und gefeiert werden, dass in Deutschland das Prinzip der Meinungsfreiheit gelebte Realität ist.

Ebenso sind Menschen, die gegen die Waffenlieferungen Deutschlands an Israel protestieren und die Regierung auffordern, dem Internationalen Strafgerichtshof beizustehen, weder antisemitisch noch eine Bedrohung für den deutschen Staat. Im Gegenteil, sie wollen den Worten „Nie wieder“ einen Sinn geben und verhindern, dass Deutschland in einen weiteren Völkermord verwickelt wird – in diesem Jahrhundert. Sie wollen, dass Deutschland sich von seiner besten Seite zeigt. Dass sie ihre abweichende Meinung äußern, ist ein Zeichen für eine aktive und engagierte Bürgerschaft und damit ein Schlüsselmerkmal einer lebendigen und funktionierenden Demokratie.

Es gibt große und kleine Lösungen, um eine bessere Zukunft zu schaffen. Tatsache ist, dass es in der menschlichen Gesellschaft schon immer Pluralismus gegeben hat. Er war eine tiefgreifende Quelle der Innovation und Evolution. Diejenigen, die ihn fürchten, können Spaltung und Zerstörung schüren. Die Wahl ist also klar: Wollen wir eine Zukunft voller Spaltung und Polarisierung oder eine Zukunft des Vertrauens und des sozialen Zusammenhalts? Einstein sagte: „Phantasie ist wichtiger als Wissen.“ Es ist an der Zeit, wieder eine Zukunftsvision zu entwerfen. Die gute Nachricht ist, dass vieles davon schon da ist, wenn wir nur genau hinsehen.

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