Wie Russland von den Trugschlüssen des Westens profitiert
Der Westen hat Russland immer wieder falsch eingeschätzt. Hiervon hat Moskau profitiert und den Westen für seine Überlebensstrategie benutzt. Die westlichen Staaten müssen ihren politischen Ansatz von Grund auf überdenken, um die Entwicklung in Russland wirklich zu verstehen und nicht länger ein Stabilisator eines politischen Systems in Russland zu sein, das auf persönlicher Macht beruht.
Von Lilia Shevtsova
Falsche Wahrnehmungen, Illusionen und Klischees sind zu mächtigen politischen Instrumenten geworden. Trugschlüsse sind für die herrschende Klasse Russlands zu einer Überlebens- und Ablenkungsmethode geworden. Die Art und Weise, wie Russland wahrgenommen wird, trägt dazu bei, das gegenwärtige Regime zu legitimieren, die Aufmerksamkeit von inneren Problemen abzulenken und ein günstiges Umfeld für Außenbeziehungen zu schaffen. Sie fördert die Entstehung von Mythen. Mit seiner Täuschungstaktik übt Russland erfolgreich Einfluss auf den Westen aus und sorgt so für eine wohlwollende Politik gegenüber Moskau.
Das postsowjetische Russland ist die Quelle für zahlreiche beabsichtigte und unbeabsichtigte Fehlwahrnehmungen. Man könnte sagen, das Schaffen von Mythen ist Russlands erfolgreichster Wirtschaftszweig. Doch für den Westen ist dies ein Verlustgeschäft mit teuren Trugschlüssen geworden.
Russland hat seine Existenz bewusst auf Missverständnissen aufgebaut, die es über sich selbst zu erzeugen wusste. Seine politischen Analysten und ganze Denkfabriken für Fehlinformationen sind darin äußerst geschickt. Aber warum werden diese Täuschungen so bereitwillig von westlichen Experten wiederholt? In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine lange Liste von Misserfolgen angehäuft, zu verstehen, was Russland ausmacht und wohin der russische Weg führt.
Wenn Russland die Quelle globaler Fehlwahrnehmungen geworden ist, wie sieht es in anderen Teilen der Welt aus? Erzeugen auch sie ihre eigenen Trugschlüsse? Besonders besorgniserregend ist der Einfluss der russischen Verzerrungen auf globaler Ebene, weil er das Verhalten liberaler Demokratien und anderer autokratischer Staaten verändert.
Der Kern dieser Phänomene ist die westliche Fehlwahrnehmung selbst. Beruht sie auf Naivität, vorsätzlicher Ignoranz, Uninformiertheit, dogmatischem Denken oder Eigeninteresse? Was würde es bedeuten, wenn die Art und Weise, wie der Westen Russland einschätzt, auch eine Projektion westlicher Ängste, Komplexe und Dämonen wäre?
Die Unfähigkeit, das Ende der Sowjetunion vorherzusehen
Das westliche Unvermögen, das heutige Russland zu verstehen, hat seine Ursprünge in der Unfähigkeit, die ehemalige Sowjetunion zu verstehen. Während des Kalten Krieges war die Sowjetologie das vorherrschende Paradigma im Westen. Sie ging davon aus, dass die Sowjetunion felsenfest und stabil sei – bis zu dem Moment, als diese zerbröckelte.
Nachdem die Sowjetunion in sich zusammengefallen war, begruben westliche Analysten hastig ihre Sowjetologie und beeilten sich, das post-sowjetische Russland mithilfe der Transitologie zu untersuchen. Die Transitologie war eigentlich ein wissenschaftliches Konzept zur Analyse von marktorientiertem Wandel in Lateinamerika und Südeuropa. Diese Theorie musste jetzt für die Unausweichlichkeit der russischen Weiterentwicklung zur Demokratie herhalten. In der Zwischenzeit wurden auch die Reformer in Russland vom plötzlichen Zusammenbruch der Sowjetunion überrascht. Weil sie nicht über eigene Theorien verfügten, akzeptierten sie die analytischen Annahmen des Westens, die jedoch Russlands Geschichte, politische Kultur und Traditionen ignorierten. Es ist bittere Ironie, dass dieses „Übergangs“-Modell für die post-sowjetische Bürokratie ein Instrument darstellte, demokratische Institutionen zu imitieren, während sie gleichzeitig ein Macht- und Besitzmonopol aufbaute. Das Modell musste auch erklären, warum Russlands Weg steinig sein würde. Doch weil der Übergang zur Demokratie schließlich unausweichlich sei, könne man dabei über Abweichungen und Probleme großzügig hinwegsehen.
In der Praxis basierte die westliche Politik auf einer Vielzahl von Illusionen, die dazu beitrugen, ein personenzentriertes Herrschaftssystem in Russland wiederherzustellen. Zum Beispiel verschleierte die Ansicht, dass Boris Jelzin der Architekt eines demokratischen Russlands sei, nur seine wirkliche Rolle als Pate einer neuen Ein-Mann-Herrschaft. Was noch schlimmer war: Westliche PR-Agenturen unterstützten eine Reihe von Manipulationen, um Jelzins Wiederwahl 1996 zu sichern. Das war der Wendepunkt, an dem viele in Russland ihren Idealismus und ihr Vertrauen in demokratische Institutionen und Prozesse verloren.
Der Westen wollte Marktwirtschaft, doch förderte die Kleptokratie
Die massive und bedingungslose Hilfe des Westens beim Aufbau einer russischen Marktwirtschaft endete mit der Entstehung einer Kleptokratie. Tatsächlich sind russische Liberale mit der Unterstützung des Westens ein wichtiger Teil des neuen Autoritarismus geworden. Weil der Übergang zur Marktwirtschaft dem Aufbau demokratischer Institutionen vorausging, konnten Russlands neue Herrscher öffentliches und staatliches Eigentum erfolgreich privatisieren. Mit Blick auf die russischen Marktreformen folgerte der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf daher: „Die neue Ökonomie der Kapitalisten ist nicht weniger illiberal als die Alte der Marxisten.“
Außerhalb Russlands sahen die Gurus des Westens eine alternative Realität. Henry Kissinger zum Beispiel begrüßte die Präsidentschaft Dimitri Medwedews (2008 bis 2012). Er argumentierte, dass sie den „Übergang von der Konsolidierung zur Modernisierung“ widerspiegele. Darüber hinaus bestand Kissinger darauf, dass die beiden Machtzentren, Medwedew und Putin, „vielleicht der Beginn der Herausbildung einer Form der Checks-and-Balances sein könnten.“ Dabei handelte es sich erneut um ein fundamentales Missverständnis der politischen Realität und Kultur Russlands.
Nachdem sie es nicht geschafft hatte, die demokratische Entwicklung in Russland zu beeinflussen, entschloss sich die EU, ein politisches Theaterstück zu inszenieren und einfach so zu tun, als ob Russland sich den EU-Prinzipien anpassen würde, während sich das Land tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Wie Kissinger sahen die deutschen Eliten in Medwedew die Antwort auf alle ihre Hoffnungen beim russischen Übergang zur Demokratie und zur Marktwirtschaft. Kritik an Medwedew als Möchtegern-Reformer wurde vom deutschen Establishment brüsk zurückgewiesen als Propaganda aus vergangenen Zeiten. Deutschland bot Russland eine Modernisierungspartnerschaft an, als bereits überdeutlich zu sehen war, dass der Kreml nicht bereit war, Russland zu modernisieren, und befürchtete, sein Machtmonopol zu verlieren. Der Kreml wollte Investitionen und den Transfer von technologischem Know-how, aber war weder an demokratischem Wandel noch an Rechtsstaatlichkeit interessiert.
Deutschlands zentrale Rolle bei der Wiederherstellung eines personalisierten Herrschaftssystems verdient eine ernsthafte Überprüfung. Wir sollten nicht vergessen, dass der Erdgas-Röhren-Vertrag zwischen Bonn und Moskau in den 1970er Jahren das Schicksal Russlands auf viele Jahre bestimmte, indem er eine staatliche Öl- und Gaswirtschaft schuf, die den Kern des heutigen Herrschaftssystems des Rentenkapitalismus bildet. Während Willy Brandts Ostpolitik dazu beitrug, die Beziehungen zu normalisieren und persönliche politische Kontakte zu verbessern, hat das Russland Putins eine Form der Ostpolitik wiederbelebt, die vor allem auf Opportunismus basiert und den damit verbundenen Revisionismus verbirgt.
Das russische Narrativ der „Demütigung“
Russische Experten, die den Kreml unterstützen, haben den Westen erfolgreich mit ihren Argumenten gefüttert, zu denen auch das Mantra der „Demütigung“ gehört. Es dient dazu, den Großmachtstatus Russlands zu rechtfertigen, indem ein Gefühl der Kränkung und des Ressentiments genährt wird. Dazu gehört, die Welt ständig daran zu erinnern, wozu die Demütigung einer anderen großen Nation nach dem Ersten Weltkrieg – gemeint ist Deutschland – schließlich geführt hat.
Der Kreml beschwert sich immer wieder darüber, dass der Westen ihn unterschätzt und sich weigert, Russland seine „angemessene“ Rolle auf der internationalen Bühne zuzugestehen. Doch in der Zwischenzeit hat Russland Zugang zu einer ganzen Reihe von demokratischen „Klubs“ erhalten – dazu gehören die G7 (aus der die G8 wurde) und der NATO-Russland-Rat. Moskau wurde Mitglied im IWF und im Europarat. Außerdem unterzeichnete die EU 1997 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland und bekannte sich zu „einer strategischen Partnerschaft, die auf gemeinsamen Werten und Interessen“ beruht. Der Westen unterstützte Russlands Eintritt in die WHO und schnürte ein mehrere Milliarden US-Dollar schweres Hilfspaket für das Land.
Das neueste Mantra des Kreml beschäftigt sich mit dem „Niedergang des Westens“ und dem Ende der liberalen demokratischen Ordnung. Das Narrativ vom Untergang und dem von Oswald Spengler inspirierten „Ende des Westens“ sind zu den Hauptprämissen russischer Außenpolitik geworden. Aus dem Kreml heißt es offiziell: „Das Potenzial des historischen Westens schrumpft.“ Das wirft die Frage auf, wie ein im Niedergang befindlicher Westen Russland demütigen oder Russlands Souveränität bedrohen kann – Letzteres ist eine weitere Beschwerde. Warum ist ein untergehender Westen immer noch Russlands Feind Nummer Eins? Obendrein sind die Verteidiger der Großmacht Russland kaum in der Lage, zu erklären, wie sich dieser Status mit einem Russland verträgt, das als ölproduzierender Staat über dasselbe Bruttoinlandsprodukt verfügt wie Spanien.
Tatsächlich ist es für Russen ungewöhnlich, sich ihr Land als normalen Staat vorzustellen. Aber es ist wichtig zu verstehen, wie sich diese Einstellungen der russischen Gesellschaft bezüglich des „Großmachtstatus“ entwickelt hat. Das Land ist bei diesem Thema gespalten. Laut einer Umfrage des unabhängigen Levada Center sagen 42 Prozent der Russen, dass sie sich Russland als Großmacht wünschen, die vom Rest der Welt gefürchtet wird. 56 Prozent der Befragten wünschen sich dagegen Russland als Staat, der den Wohlstand des Volkes garantiert, aber nicht zu den mächtigsten Staaten der Welt gehört. Diese Sicht passt nicht in das Bild des Kreml und seiner westlichen „Wohltäter“.
Was Russland unter „Gleichberechtigung“ versteht
Eine Variante des Demütigungs-Narrativs, die im Westen ganz besonders bei linken Intellektuellen auf Resonanz stößt, ist die russische Forderung nach politischer Gleichberechtigung und Respekt auf dem internationalen Parkett. Man kann sich nur vage vorstellen, was „Gleichberechtigung“ in diesem Kontext bedeutet. Russland verfügt in den internationalen Institutionen über dieselben Rechte wie andere Staaten auch. Was erfordert Gleichberechtigung sonst noch? Russland irgendwelche „Sonderrechte“ zuzugestehen – zum Beispiel ein Veto- oder Ausnahmerecht bezüglich akzeptierter internationaler Normen – würde das Land über andere Staaten erheben. Sind einige Staaten denn „gleicher“ als andere?
Eine Begleiterscheinung der russischen Forderung nach „Gleichberechtigung“ ist das Beharren darauf, dass ehemalige Mitgliedsstaaten der Sowjetunion natürlicherweise in die Einfluss-Sphäre Russlands fallen. Anders ausgedrückt: Der Westen soll akzeptieren, dass diese Staaten nur über eingeschränkte Souveränität verfügen. Doch wo bleiben die gleichen Rechte für Länder wie die Ukraine, Georgien oder Belarus?
Ein weiterer empörter Vorwurf aus Moskau ist der, dass „führende Politiker im Westen kein Interesse an der Integration Russlands gezeigt hätten“. Wir haben bereits gesehen, dass der Westen Russland verschiedene Politikbereiche für die Integration angeboten hat. Das Problem ist: Russland wünscht sich Integration, möchte aber weiter nach seinen eigenen Regeln spielen. Es möchte privilegierte Beziehungen und fordert ein Vetorecht bei der NATO und anderswo. Dieses Verhalten wird nur dazu beitragen, diese Institutionen auszuhöhlen mit dem Ergebnis, dass sie nicht mehr funktionieren. Russland war niemals ein Unterstützer des Multilateralismus, sondern nutzt internationale Institutionen nur, wenn sie den Interessen des Kreml dienen. Wo seine Interessen nicht bedient werden, umgeht Russland die internationalen Institutionen.
Dieser Essay wurde gemeinsam mit Stefan Meister, Associate Fellow der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), verfasst. Ein zweiter Teil erscheint im nächsten Newsletter.
Der Essay ist Teil einer gemeinsamen Reihe über politische Fehlwahrnehmungen mit dem Magazin American Purpose. Es folgt ein Dialog zwischen Lilia Shevtsova und Stefan Meister im American Purpose.
Lilia Shevtsova ist eine russische Politikwissenschaftlerin und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. Sie ist Mitglied des Andrei Sakharov Center on Democratic Development, der Liberal Mission Foundation und gehört den Redaktionen der Magazine „American Purpose“, „Journal of Democracy“ und „New Eastern Europe“ an.
Quarterly Perspectives
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